Kanzelrede âMacht vs. NĂ€chstenliebe. Vertragen sich Politik und Glaube?â â gehalten in der Reihe âGlaube. Macht. Politikâ am Reformationstag 2014 in der Langenfelder Lutherkirche.

Kerstin Griese (Mitte) sowie Pfarrer Stefan Heinemann und Pfarrerin Silke WipperfĂŒrth, die den Gottesdienst gehalten haben.
einen herzlichen Dank fĂŒr die Einladung zu dieser Kanzelrede, und dazu auch noch an einem fĂŒr uns evangelische Christen ganz besonderem Tag, dem Reformationstag. Wir gehen auf das 500-JĂ€hrige JubilĂ€um der Reformation zu, denn wir werden 2017 weltweit daran erinnern, dass Martin Luther vor 500 Jahren die Reformation ausgelöst hat. Jedes Jahr bis dahin, von 2007 bis 2017, hat die EKD unter ein besonderes Thema gesetzt. Dieses Jahr, bis heute, steht unter dem Jahresthema âReformation und Politikâ, ab morgen ist das Thema ein Jahr lang âReformation: Bild und Bibelâ. Deshalb gibt es viel Anlass, um ĂŒber das VerhĂ€ltnis von Glaube, Macht und Politik nachzudenken, wie Sie es mir fĂŒr diese Kanzelrede aufgegeben haben.
I.
FĂŒr uns Politikerinnen und Politiker ist es viel schwieriger, eine Predigt zu halten, als eine Rede im Deutschen Bundestag oder in einer Versammlung. Es ist auch eine viel persönlichere Angelegenheit, geht es doch um das ganz eigene WerteverstĂ€ndnis und die Konsequenzen daraus. Aber es ist mir auch immer wieder eine Freude, mich abseits der Tagespolitik auf einen Bibeltext einzulassen, nachzufragen und zu ĂŒberlegen was damit in dieser Zeit gemeint war, und was er uns heute bedeutet.
Als Politikerin und als Christin sage ich oft, mein Glauben ist wie ein Kompass. Nicht wie ein NavigationsgerĂ€t im Auto, das einem genau ansagt, ob es jetzt rechts oder links herum geht. In der Bibel steht NICHT, wie man zur Atomenergie, zur PrĂ€implantationsdiagnostik, zum Mindestlohn, zur Pflegversicherung oder ganz aktuell zur Maut abstimmen soll. Zum GlĂŒck steht das da nicht! Und jeder, der in einem Parlament behauptet, er hĂ€tte sein konkretes Abstimmungsverhalten direkt aus der Bibel abgeleitet, ist mir suspekt.
Aber die Bibel ist politisch, sie ist wie ein Kompass, der uns eine Richtung weist, wenn wir den Kompass denn aktiv selbst in die Hand nehmen und selbst orten wollen, wenn wir uns darauf einlassen. So vertragen sich aus meiner Sicht Glaube und Politik.
Ăbrigens erlebe ich im politischen Alltag oft, dass man sich auch ĂŒber Parteigrenzen hinweg versteht, wenn man von der gemeinsamen Motivation getrieben ist. Man muss dann nicht immer gleich abstimmen. Aber dem anderen sein redliches BemĂŒhen abzunehmen ist oft schon ein erster wichtiger Schritt.
âMacht versus NĂ€chstenliebeâ, das haben Sie mir als Frage gestellt. Und aus der Erfahrung als Bundestagsabgeordnete sage ich: Macht alleine ist nie gut. Macht muss mit Werten verbunden sein, fĂŒr die man sich einsetzt. Macht mit NĂ€chstenliebe â oder wie wir in der Sozialdemokratie sagen: Macht mit SolidaritĂ€t, das ist sinnvoll und das ist gut. Macht erreichen zu wollen ist nötig, wenn man politisch etwas bewegen will. Aber Macht wĂ€re hohl und kalt, sie kann sogar gefĂ€hrlich werden, wie wir aus der Geschichte und Gegenwart wissen, wenn sie nicht mit der Liebe zu den Menschen verbunden wĂ€re. Macht darf man nicht um ihrer selbst willen erreichen wollen. Macht darf niemals Selbstzweck sein. Macht muss man dafĂŒr einsetzen, um fĂŒr die Menschen Verbesserungen zu erreichen.
So sehe ich auch meine Aufgabe als Politikerin. Mein Mandat gibt mir die Möglichkeit, mich zu engagieren, damit alle Menschen an Arbeit, an sozialer Sicherung und an gesellschaftlichem Miteinander teilhaben können.
II.
Sie haben mir fĂŒr die Kanzelrede am heutigen Reformationstag Verse aus dem Neuen Testament, aus dem Johannesevangelium aufgegeben. Wir haben sie eben im Zusammenhang gehört und ich lese die Verse 34 und 35 noch einmal:
Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine JĂŒnger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.
Dieses Wort ist aus dem Anfang der âAbschiedsredenâ, in denen Jesus zu den JĂŒngern spricht. Er hat erkannt, dass âseine Stunde gekommen warâ, wie zu Anfang des Kapitels heiĂt, also dass sein Tod nahe ist. Jesus hat seinen JĂŒngern die FĂŒĂe gewaschen, auch Judas, der ihn verraten hat
Die Verse, die wir in der Bibel lesen, sind historisch nicht genau so am StĂŒck als Rede gehalten worden, sondern von dem Evangelisten Johannes Jesus zugeschrieben. Diese Feststellung mindert ihre Bedeutung nicht. Das Johannes-Evangelium ist so etwas wie die Ăberlieferung von Jesus von Nazareth fĂŒr die kommenden Generationen. Es beschreibt das Wirken Jesu mit eigenen, meditativen Worten und Gedanken.
Ein neues Gebot gebe ich euch heiĂt es da.
Dieser Satz von dem âneuen Gebotâ beschreibt, was mit Jesus âneuâ in die Welt gekommen ist. Dabei greift der Evangelist Johannes auf die jĂŒdische Tradition zurĂŒck. Neu im HebrĂ€ischen und im Griechischen steht nicht im Gegensatz zu âaltâ oder âĂŒberholtâ, sondern bedeutet so viel wie âkĂŒnftigâ oder âzukĂŒnftigâ. Das âneue Gebotâ ist das endgĂŒltige Gebot, das auf KĂŒnftiges ausgerichtete.
Es geht Jesus also nicht um die Vergangenheit, um das ZurĂŒckliegende, nicht einmal um das GegenwĂ€rtige, sondern es geht um das Neue, um die Zukunft. Statt dem Blick zurĂŒck, gilt es, sich mit aller Kraft fĂŒr die Zukunft einzusetzen, vor der Zukunft nicht zurĂŒck zu weichen. Nicht stehen bleiben, sondern Neues anpacken, sich engagieren, in neuen Bahnen denken, die Erneuerung fĂŒr das Reich Gottes erstreben, dessen AnfĂ€nge wir auf Erden doch alle schon erleben wollen.
Dieses neue ist mit der Liebe zu den Menschen verbunden und das groĂe Vorbild dafĂŒr ist Jesus Liebe: dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe. Die Liebe als Maxime menschlichen Handelns wird hier als VermĂ€chtnis Jesu fĂŒr die Welt deutlich.
FĂŒr mich wirkt das Bibelwort motivierend. Schau nach vorne, gestalte das Neue voller Liebe zu den Menschen, mische dich ein, höre ich daraus. Ja, es ist auch eine Motivation, in der Politik nach vorne zu schauen und Dinge anzupacken, oft auch dicke Bretter zu bohren. Und ich freue mich, dass Jesus so ein zukunftsgewandter und liebevoller Mensch war, der andere fĂŒr sich und seine Sache begeistern kann.
III.
Wir haben eben vor der Predigt das schöne Lied âSonne der Gerechtigkeitâ gesungen. Gerechtigkeit und Liebe gehören zusammen. â…dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habtâ, heiĂt es im heutigen Predigttext. Gerechtigkeit, das ist es, was mich im politischen Engagement leitet. Der biblische Auftrag bedeutet fĂŒr mich ganz konkret der Einsatz fĂŒr die Schwachen, fĂŒr die Armen, fĂŒr diejenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Und da gibt es in der Tat viel zu tun. Wir haben in diesem Jahr intensiv ĂŒber die EinfĂŒhrung eines gesetzlichen Mindestlohns diskutiert und ihn durchgesetzt. Ab Januar nĂ€chsten Jahres wird er gelten, 8,50 Euro als gesetzliche Untergrenze, fĂŒr alle Branchen und flĂ€chendeckend. Auch der Mindestlohn steht natĂŒrlich nicht wörtlich in der Bibel. Aber einen solchen Mindestlohn festzusetzen bedeutet, aus einer grundsĂ€tzlichen Haltung heraus, aus Liebe zu den Menschen, den Wert und die WĂŒrde von Arbeit zu schĂ€tzen.
Wenn ich mir die auch bei uns immer noch existierende Kinderarmut in Familien, die es besonders schwer haben, ansehe, dann will ich gerade als evangelische Christin mehr tun, damit alle Kinder ein gute Chance auf Bildung und auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben, dass sie gesund und beschĂŒtzt aufwachsen.
Und nicht zuletzt bedeutet ein Blick auf die weltweiten Krisen, dass angesichts von Krieg, Hass, Terror und Gewalt unsere ganze Macht darauf gerichtet sein muss, Frieden und gewaltfreies Miteinander zu fördern, um von Liebe gar nicht erst zu sprechen. Angesichts der GrĂ€uel in Syrien und im Nordirak fĂŒhlt man sich als Politikerin oft machtlos. Und angesichts der Tatsache, dass dort Religion als BegrĂŒndung fĂŒr schlimmste Gewalt missbraucht wird, erst recht. Das dĂŒrfen wir nicht dulden, denn Religion darf niemals von MĂ€chten ausgenutzt werden, die damit Gewalt rechtfertigen. Das ist in den Jahrhunderten unserer Geschichte im Christentum passiert, das erleben wir jetzt, wenn sich Terroristen zu Unrecht auf den Islam berufen.
In den Krisengebieten unserer Welt ist alle unsere Hilfe gefragt. Aber neben den Hilfslieferungen, Lebensmittel, Wasser, UnterkĂŒnfte, neben der schwierigen Frage der Waffenlieferungen, geht es auch darum, dass Hass und Gewalt nicht siegen dĂŒrfen. Der Mensch Jesus von Nazareth war ein faszinierendes Vorbild in seiner Gewaltfreiheit, in seiner unbedingten Liebe zu den Menschen und in seinem Willen zum Frieden.
Bei uns vor der HaustĂŒr erleben wir die Auswirkungen der Kriege, wenn FlĂŒchtlinge zu uns kommen. Auch hier wird fĂŒr mich der heutige Bibeltext ganz konkret und ich bin dankbar, dass sich in unseren StĂ€dten so viele Menschen ehrenamtlich engagieren, um mit FlĂŒchtlingskindern zu lesen und zu spielen, um Erwachsene auf Ămter zu begleiten, um Hilfe im Alltag zu leiten, Diese Menschen haben Schlimmstes erlebt und brauchen gerade jetzt unsere ganze UnterstĂŒtzung und, ja, auch unsere Liebe. NĂ€chstenliebe im wörtlichen Sinn ist das.
IV.
Die biblischen Worte von vor 2000 Jahren haben bis heute ihren Wert und ihre WĂŒrde. Sie haben viele Generationen von Menschen begleitet, in ihrem alltĂ€glichen Handeln und ihren Grundeinstellungen zu den Fragen des Lebens. Sie mĂŒssen aber von uns Menschen immer wieder neu in unserer Zeit betrachtet, manchmal auch ĂŒbersetzt und angewandt werden. Das war schon vor 500 Jahren zu Zeiten des Reformators Martin Luther so. Luther wagte es, weiter zu denken und das Alte hinter sich zu lassen. Bei der Reformation ging es darum, alte Zöpfe abzuschneiden: die Ablasszahlungen zu beenden, den Zölibat abzuschaffen, die Kirche und ihre Pfarrer mitten ins Leben zu bringen, die VerkĂŒndigung in den Mittelpunkt zu stellen und dem Evangelium, seine Leuchtkraft wieder zu erschlieĂen. Dahinter gibt es kein ZurĂŒck.
Nicht nur die Kirche, auch der Gang der Dinge in der Welt muss immer wieder erneuert werden. Das ist der Auftrag von Christinnen und Christen, die stÀndige Erneuerung der Welt in der Nachfolge Jesu.
Sinnvolle, âwert-volleâ AusĂŒbung von Macht heiĂt heute mehr als frĂŒher, sich am weltweiten Zusammenhang zu orientieren, am globalen Frieden. Sich an die Seite derjenigen zu stellen, die am wenigsten vom Leben haben, bedeutet auch, die Folgen unserer Wirtschafts- und Energiepolitik fĂŒr die Menschen auf der sĂŒdlichen Erdhalbkugel zu bedenken. Macht nicht alleine als Sinn und Gewinn zu betrachten, sondern alle Sinne offen zu bewahren fĂŒr die Menschen in Sprachlosigkeit, Armut und Ausgegrenzt Sein in aller Welt, das ist fĂŒr mich christliche NĂ€chstenliebe, das ist fĂŒr mich Gerechtigkeit und SolidaritĂ€t.
V.
Bei allen Schwierigkeiten und Problemen: Gott gibt niemals auf. Er verweist uns immer wieder darauf, dass es um die Zukunft geht. Seine Zukunft ist offen. Er bietet uns stĂ€ndig Chancen und Möglichkeiten an. Aber er erteilt keine Befehle. Gott sei Dank! Ich bin ganz persönlich dankbar fĂŒr die Freiheit eines Christenmenschen, fĂŒr meinen Kompass und fĂŒr die tĂ€gliche Losung, mit der ich morgens frĂŒh in den politischen Alltag starte. Gott gibt uns nicht auf, er lĂ€sst uns nicht allein, und er stĂ€rkt uns, uns immer wieder zu entscheiden, fĂŒr die Zukunft, fĂŒr die Liebe der Menschen zueinander. Amen.