Religion – Demokratie – Vielfalt

Was ist heute Religionspolitik und welchen Beitrag kann die Sozialdemokratie dazu leisten? Ein Beitrag für ein Arbeitspapier der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Religion und Demokratie.

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„Wir alle sind Deutschland.“ Mit diesem Satz hat Bundespräsident Joachim Gauck am 13. Januar 2015 bei einer Kundgebung in Berlin nach den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und einen koscheren Supermarkt in Paris ausgedrückt, worum es gegenwärtig in Deutschland geht: um die Gestaltung einer gegenüber der alten Bundesrepublik West und der DDR sehr viel pluralistischeren Gesellschaft, zu der alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen dazugehören, egal woher sie kommen und welche Sprache(n) sie sprechen.

Zu einer pluralen Gesellschaft gehören wesentlich die unterschiedlichen Wertüberzeugungen der Bürgerinnen und Bürger, seien sie religiös oder nicht religiös begründet. Unterschiedliche Vorstellungen darüber, was gut und erstrebenswert ist, sind durchaus anspruchsvoll. Pluralität ist „keine Idylle“ (Wolfgang Thierse), sondern eine Aufgabe. Denn selbst wenn ein Grundkonsens darin besteht, dass „allen Bürgern ohne Ansehen ihrer kulturellen Herkunft, religiösen Überzeugung und individuellen Lebensführung gleiche Freiheiten“ zustehen, so kann sich doch „der angestrebte Konsens in Fragen der politischen Gerechtigkeit […] nicht mehr auf ein traditionell eingewöhntes Ethos stützen“.1 Aber welche Auffassung soll im Zweifelsfall den Ausschlag geben und zum Maßstab von allgemeinen Normen und Gesetzen werden? Wie viel Gemeinsames braucht es, damit möglichst viele ihre individuellen Vorstellungen eines guten Lebens verwirklichen können?

Vor dem Hintergrund solcher Fragen erhalten religiöse Überzeugungen ein neues Gewicht. Ihr Miteinander muss als Teil der gesamtgesellschaftlichen Pluralität neu ausbalanciert werden. In Deutschland gilt dies noch in besonderer Weise, weil sich die Frage der Religion nicht nur mit einer Vielfalt von Lebensformen, sondern auch mit der Frage nach deutscher Identität verbindet. Wer fragt: „Gehört der Islam zu Deutschland?“, fragt im Grunde nach dem deutschen „Wir“. Navid Kermani hat recht: „Die westeuropäische Debatte über den Islam ist eine Debatte über Westeuropa.“2

Eine kluge Religionspolitik muss künftig also einen weiten Bogen spannen. Neben die „klassischen“ Themen von Kirche, Religionsgemeinschaften und Staat, (bio-)ethischen Fragen und solchen der sozialen Gerechtigkeit treten zunehmend kulturelle Aspekte. Wer über Religion spricht, spricht nicht mehr nur über den individuellen Glauben von Menschen oder über bestimmte Sozialformen des Religiösen und ihre Rolle in der Gesellschaft, sondern auch über die kulturellen Wurzeln unserer Rechtsordnung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Weltanschauliche Neutralität des Staates bedeutet ja keineswegs Wertneutralität der Rechtsgemeinschaft oder eine ethische Neutralität der demokratischen Prozesse zur Verwirklichung der Grundrechte. Darauf hat Jürgen Habermas wiederholt hingewiesen. Als Beispiel mag die jüngst beendete Diskussion um die künftige Regelung der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung dienen, die über weite Strecken als weltanschauliche Debatte geführt wurde.

Ein solcher religionspolitischer Diskurs setzt freilich voraus, dass die Bürgerinnen und Bürger wissen, wo sie selbst stehen, und dass sie bereit und in der Lage sind, sich auf Überzeugungen anderer einzulassen. Toleranz und Vielfalt können besser gelebt werden, wenn man den eigenen Standpunkt fundiert vertreten kann. Das gilt in besonderer Weise für den Diskurs über Religion. Der Berliner evangelische Bischof Markus Dröge hat in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel geschrieben: „Wenn […] immer weniger Menschen Religion verstehen und gleichzeitig immer mehr Menschen für Religion empfänglich sind, dann ist Gefahr im Verzug. Wer die Religionen nur noch von ihren Zerrbildern her versteht, ist besonders gefährdet, sich gegen die jeweils Anderen aufwiegeln zu lassen. Je weniger religiöse Bildung, umso mehr Gefahrenpotenzial für Terrorismus.“3

Religion und Sozialdemokratie

Wer verstehen will, welche Resonanz das Thema Religion innerhalb der Sozialdemokratie hat, muss weit in die Geschichte zurückgehen.4 Das Bekenntnis zum jüdisch-christlichen und zum humanistischen Erbe Europas war für die SPD ein weiter Weg. Erst das Hamburger Programm von 2007 hat die jüdischen Wurzeln der Sozialdemokratie ausdrücklich benannt und damit anerkannt. Im Rahmen der 150-Jahr-Feiern der SPD 2013 wurde die herausragende Bedeutung, die bürgerliche Intellektuelle und Unternehmer jüdischer Herkunft für die SPD hatten, in einer eigenen Veranstaltung gewürdigt. Man kennt Namen von großen jüdischen SozialdemokratInnen, weiß um die jüdischen Wurzeln von Karl Marx, Ferdinand Lassalle, Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg. Welche jüdischen Denktraditionen aber die Programmatik der Partei und die Politik genau geprägt haben, ist noch weitgehend unbekannt. Dieses jüdische Erbe der Sozialdemokratie gilt es (wieder) zu entdecken. Wer weiß zum Beispiel, dass der jüdische SPD-Politiker und Abgeordnete der Nationalversammlung Hugo Sinzheimer der Vater des deutschen Arbeitsrechts war, dass ganze Passagen der Weimarer Reichsverfassung auf ihn zurückgehen und von ihm der Ausspruch „Eigentum verpflichtet“ stammt?5

Von den Anfängen bei Lassalle und Bebel bis weit ins 20. Jahrhundert hinein standen sich Kirchen und Sozialdemokratie nahezu feindlich gegenüber. Für die Sozialisten verkörperten die Kirchen im 19. Jahrhundert das alte Regime, egal ob evangelisch oder katholisch. Umgekehrt bekämpften auch die Kirchen die junge SPD. „Die Sozialdemokratie mit ihren Ursachen ist eine höchst gefährliche staatliche und gesellschaftliche Krankheit“, sagte der preußische Hofprediger Adolf Stöcker 1888.6 Und das war noch eine der freundlicheren Formulierungen. So begrüßten die Kirchen die Sozialistengesetze Bismarcks, die Sozialdemokratie galt als antichristlich. Die Sozialisten verschärften ihrerseits den Ton. Religion wurde zur Privatsache erklärt – so stand es 1875 bis 1921 im Parteiprogramm. Schon im Eisenacher Programm von 1869 forderten die Sozialdemokraten vehement die Trennung von Kirche und Staat sowie die Trennung der Schule von der Kirche. In dieser Anfangszeit standen sich Christentum und Sozialismus, um mit August Bebel zu sprechen, „wie Feuer und Wasser“ gegenüber.

Auch der religiöse Sozialismus konnte an diesem Verhältnis im Kern nichts ändern. Ja, es gab herausragende Persönlichkeiten dieser Bewegung, wie etwa den württembergischen Pfarrer und Sozialdemokraten Christoph Blumhardt aus Bad Boll, der um die Jahrhundertwende im Sozialismus die Hoffnung auf Verwirklichung des Reiches Gottes bereits auf Erden sah. Später verbanden sich mit der religiös-sozialen Bewegung große Namen wie Paul Tillich oder Karl Barth. Doch fest Fuß fassen konnte der Religiöse Sozialismus in Deutschland nie. Die Gräben zwischen Christen und Sozialisten konnten selbst zur Hochzeit der Bewegung in der Weimarer Zeit nicht überbrückt werden. Gleichwohl hat die Literatur dieser Bewegung in der späten Bundesrepublik noch zahlreiche kirchliche Positionsbestimmungen bis hin zu EKD-Denkschriften beeinflusst, so dass der Kirchenhistoriker Günther Brakelmann resümiert: „Obwohl die religiös-sozialistische Bewegung […] innerhalb des Protestantismus immer eine Minderheitenbewegung gewesen ist, hat sie die Diskussion um das Verhältnis von Kirche und Arbeiterschaft, Kirche und Sozialismus wie Kirche und Wirtschaftsordnung entscheidend mitbestimmt und befruchtet.“7

Erst im Nachkriegsdeutschland konnte eine für Christinnen und Christen offenere SPD entstehen. Kurt Schumachers Worte von 1946 mögen hier als wegweisend angesehen werden: „Unserer Partei muss viele Wohnungen für viele Arten von Menschen kennen […]. Mag der Geist des Kommunistischen Manifestes oder der Geist der Bergpredigt, mögen die Erkenntnisse rationalistischen oder sonst irgendwelchen philosophischen Denkens ihn bestimmt haben, oder mögen es Motive der Moral sein, für jeden […] ist Platz in unserer Partei.“8

Damit hat Schumacher die religiös-weltanschauliche Programmatik der SPD grundlegend neu ausgerichtet. Doch es sollten noch gut zehn Jahre vergehen, ehe das Godesberger Programm von 1959 eine bessere Alternative aufzeigen konnte. Wegweisend war sicher der Übertritt Gustav Heinemanns zur SPD 1957. Erhard Eppler hatte es vorgemacht, nun löste Heinemann die Gesamtdeutsche Volkspartei auf. Mit ihm kamen viele bekennende Christinnen und Christen zur Sozialdemokratie, wie beispielsweise Jürgen Schmude und Johannes Rau, aber auch die Katholiken Georg Leber und Hans-Jochen Vogel.

Mit dem Godesberger Programm wurde die SPD zu einer pluralistischen, linken, werteorientierten Volkspartei. Auf der Basis der Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität konnten fortan Menschen unterschiedlicher Wertehintergründe, Wurzeln und Bekenntnisse miteinander für sozialdemokratische Ziele kämpfen. Marxisten, Humanisten und Christen konnten zusammenarbeiten, ohne ihre weltanschaulichen Differenzen austragen zu müssen.

Diese Öffnung der Sozialdemokratie ermöglichte Annäherungen zwischen der Sozialdemokratie und den Kirchen. Während der Regierungsjahre von Willy Brandt und Helmut Schmidt gab es Übereinstimmungen in der Ost- und Deutschlandpolitik und zunehmende Schnittmengen in der Friedens-, Entwicklungs-, Ausländer- und Umweltpolitik sowie im Umgang mit der NS-Vergangenheit. Nicht zuletzt dieser Gemeinsamkeiten wegen und als Folge des demokratischen Aufbruchs in den 1980er Jahren in der DDR sind in den ersten gesamtdeutschen Bundestag für die SPD viele Pfarrer und Theologen aus Ostdeutschland eingezogen.

Sozialdemokratische Antworten in der Religionspolitik

Was bedeutet diese Geschichte nun für eine sozialdemokratische Antwort auf die religionspolitischen Herausforderungen der Gegenwart? Zunächst lässt sich festhalten, dass das Verhältnis zu den Kirchen auf der Basis des Godesberger Programms sehr viel gelassener geworden ist. Das zeigt sich auch im aktuellen Hamburger Grundsatzprogramm. Zum einen begrüßen die SozialdemokratInnen das Engagement der Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht nur, sondern anerkennen es. Zum anderen wird – zumindest indirekt – die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung nicht verschwiegen, indem als Grundlage für Religionsfreiheit die Verfassung eigens benannt und die Wertschätzung der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit ihrem Beitrag für ein gutes Miteinander in der demokratischen Gesellschaft verbunden wird. In der zentralen Passage zu den Kirchen- und Religionsgemeinschaften heißt es: „Wir bekennen uns zum jüdisch-christlichen und humanistischen Erbe Europas und zur Toleranz in Fragen des Glaubens. Wir verteidigen die Freiheit des Denkens, des Gewissens, des Glaubens und der Verkündigung. Grundlage und Maßstab dafür ist unsere Verfassung. Für uns ist das Wirken der Kirchen, der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durch nichts zu ersetzen, insbesondere wo sie zur Verantwortung für die Mitmenschen und das Gemeinwohl ermutigen und Tugenden und Werte vermitteln, von denen die Demokratie lebt. Wir suchen das Gespräch mit ihnen und, wo wir gemeinsame Aufgaben sehen, die Zusammenarbeit in freier Partnerschaft. Wir achten ihr Recht, ihre inneren Angelegenheiten im Rahmen der für alle geltenden Gesetze autonom zu regeln.“9

Diese Verhältnisbestimmung ist die „Geschäftsgrundlage“ der gemeinsamen Arbeit. Sie ist ein klares Bekenntnis zu einem kooperativen Miteinander und eine Absage an einen strikten Laizismus. Das hat der Parteivorstand mit seiner einstimmigen Ablehnung eines laizistischen Arbeitskreises am 9. Mai 2011 noch einmal klar bestätigt.

Gerade weil die SPD wertegebunden ist, ohne selbst den Bezug auf ein bestimmtes Bekenntnis festzulegen, achten SozialdemokratInnen die persönlichen Überzeugungen Einzelner sehr hoch. Denn sie wissen: Ein Engagement für Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit fällt nicht vom Himmel, kann auch nicht verordnet werden, sondern ist Teil eines Ethos, auf das Politik ihrerseits angewiesen ist. Nichts anderes meint das viel zitierte Wort des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde, der Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne.

Diese Achtung verbindet sich – auch ein Erbe der Geschichte – mit einer Grundskepsis gegenüber religiösen Autoritäten. Positiv gewendet bedeutet dies, dass Religionspolitik in der SPD stets emanzipatorische Ziele hat: die Freiheitsrechte Einzelner und ein solidarisches Miteinander. Ein gutes Beispiel dafür ist die Debatte um das muslimische Kopftuch, wo gleichsam zwei Herzen in der sozialdemokratischen Brust schlagen: Einerseits soll keine Frau wegen ihrer Religion diskriminiert werden und jede Frau muss frei entscheiden können, ob sie das Kopftuch trägt. Andererseits aber gehört die Gleichberechtigung von Männern und Frauen so sehr zur DNA der SPD, das ein Verhüllungsgebot aus religiösen Gründen, das noch dazu nur für ein Geschlecht gilt, vielfach Kritik erfährt.

Die programmatische Bestimmung, dass in der SPD Menschen unterschiedlicher Religions- und Weltanschauungen auf der Basis gemeinsamer Grundwerte zusammenarbeiten, hat noch eine weitere Konsequenz. Pluralität gehört wesentlich zur Grundausrichtung der SPD. Jede/r, die oder der die Ziele der Sozialdemokratie bejaht, ist eingeladen mitzuarbeiten, ganz gleich ob Christ, Jude, Muslim, Humanist, Atheist etc.

Organisierte Zusammenarbeit

Die Zusammenarbeit zwischen Kirchen und Religionsgemeinschaften findet auf den unterschiedlichsten Ebenen statt. Es gibt regelmäßige Gesprächskontakte auf Partei- und Regierungsebene. So trifft sich das Präsidium der SPD circa alle zwei Jahre mit dem Rat der EKD und mit der Deutschen Bischofskonferenz. Auch mit dem Zentralrat der Juden und mit muslimischen Verbänden gibt es einen konstruktiven Austausch.

An der Basis wird der Dialog seit nunmehr fast vier Jahrzehnten durch einen Zusammenschluss von Ehrenamtlichen getragen, die sich aus ihrem christlichen Glauben heraus in der SPD engagieren. Bis 2007 war der Arbeitskreis auf Bundesebene ein lockerer Zusammenschluss, der – zuerst evangelisch und katholisch getrennt, ab dem Umzug nach Berlin dann ökumenisch – die Referenten für Kirchen und Religionsgemeinschaften beim Parteivorstand unterstützt hat, insbesondere bei der Vorbereitung und Durchführung sozialdemokratischer Aktivitäten bei Kirchen- und Katholikentagen. Anfang Januar 2008 hat der Parteivorstand den Kreis offiziell als Arbeitskreis Christinnen und Christen in der SPD (AKC) anerkannt. Zusammen mit vielen regionalen Gruppen ist er ein wichtiges Bindeglied zwischen sozialdemokratischer Politik und den Kirchen. Auf Bundesebene findet einmal jährlich zusammen mit der SPD-Bundestagsfraktion eine öffentliche Tagung mit Verantwortlichen aus SPD und Kirchen statt.

2007 haben sich auch jüdische SozialdemokratInnen zu einem Arbeitskreis zusammengeschlossen, der ebenfalls 2008 anerkannt wurde. Unterstützt wurde die Initiative dadurch, dass das Hamburger Programm erstmals auch die jüdischen Wurzeln der Sozialdemokratie benannt hat. 2014 ist dann auch ein muslimischer Arbeitskreis gegründet worden, der den zahlreichen muslimischen SozialdemokratInnen eine Plattform des Austausches bietet.

Alle drei Arbeitskreise verstehen sich als politische Zusammenschlüsse innerhalb der SPD, die die Brücken in die jeweiligen Gemeinschaften verstärken. Sie verstehen sich ausdrücklich nicht als religiöse Arbeitskreise, sondern als politische. Zielrichtig ist daher auch das politische Engagement, durchaus in einer Brückenfunktion zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften. 2015 fand erstmals eine gemeinsame Tagung aller drei Arbeitskreise zusammen mit der SPD-Bundestagsfraktion statt.

Perspektiven der Zusammenarbeit in einer zunehmend pluralen Gesellschaft

Die Handlungsfelder sozialdemokratischer Religionspolitik umfassen verschiedene und durchaus komplexe Aufgaben. Nur vier möchte ich hier nennen.

1. Den vertrauensvollen Dialog mit den Kirchen fortsetzen

Die konstruktive Zusammenarbeit mit den Kirchen auf den unterschiedlichen Ebenen fortzusetzen, muss weiter das Ziel sozialdemokratischer Religionspolitik sein. Viele Themen zeigen, dass es gemeinsame Ziele gibt. Als es im kirchlichen Bereich um den konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung ging, korrespondierte dies mit einer Politik, der es um die Förderung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität geht. Nachhaltigkeit, globale Gerechtigkeit, entwicklungspolitische Perspektiven und Begrenzung von Rüstungsexporten sind weitere Felder der Zusammenarbeit. Innenpolitische und sozialpolitische Themen wie die Bekämpfung von Armut, Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit, die Teilhabe aller Menschen an den gesellschaftlichen Gütern, die Inklusion von Menschen mit Behinderungen, Bildungs- und Familienpolitik und ökologische Fragen bilden ebenso immer wieder Ausgangspunkte für gemeinsames Handeln – um der Menschen willen.

Vor diesem Hintergrund eines vertrauensvollen und konstruktiven Miteinanders können auch strittige Punkte miteinander verhandelt werden, wie etwa die Ausgestaltung des kirchlichen Arbeitsrechts oder die Frage der Ablösung von Staatsleistungen. Seitens der SPD ist es gelungen, statt eines Kampfes pro oder contra „Dritter Weg“ den Blick auf die Ursachen für die Probleme zu lenken, nämlich den Preiskampf im Gesundheitssektor. Die Forderung nach einem Branchentarif Soziales ist das Ergebnis vieler Gespräche mit kirchlichen Trägern und Gewerkschaften. Das schließt Kritik und Differenzen im Einzelnen nicht aus, beschränkt diese aber auf Sachpunkte, die nicht stellvertretend für eine Bestreitung des kirchlichen Rechts auf Selbstbestimmung stehen. Dazu gehören etwa die Forderung nach einer Beteiligung der Gewerkschaften am Dritten Weg oder die Auffassung, dass das Streikrecht mit dem Konzept einer Dienstgemeinschaft vereinbar ist.

2. Gleichberechtigte Teilhabe von Menschen unterschiedlicher Bekenntnisse fördern

Wir leben in der Bundesrepublik Deutschland in einem weltanschaulich neutralen Staat, der sich ausdrücklich aus religiösen Bekenntnisfragen heraushält, um der Religionsfreiheit des Einzelnen – der positiven wie der negativen – breiten Raum zu lassen. Um dies zu tun, fördert der Staat sogar aktiv die Religionsfreiheit, die individuelle ebenso wie ihre kollektive und korporative Dimension.

Selbstverständlich gehören inzwischen auch Musliminnen und Muslime zu Deutschland und mit ihnen der Islam. Religionsfreiheit in der pluralen Gesellschaft bedeutet immer auch die Freiheit der Andersglaubenden. Wir müssen das Staatskirchenrecht im Sinne eines Religionsverfassungsrechts weiterentwickeln. Denn die grundgesetzliche Offenheit für alle Religionsgemeinschaften muss sich auch in der Rechtspraxis und der gesellschaftlichen Gleichberechtigung niederschlagen. Nur dann können wir wirklich „ohne Angst verschieden sein“, wie es Johannes Rau einmal unter Bezugnahme auf Adorno formuliert hat. Da sich der Islam – wie das Judentum auch – nicht als „Kirche“ versteht und organisiert, muss (sozialdemokratische) Religionspolitik zusammen mit Verantwortlichen auf muslimischer Seite hier nach geeigneten Wegen suchen. Wie der Islam in Deutschland in unser Gemeinwesen integriert wird, ist die entscheidende religionspolitische Frage unserer Zeit.

Die Deutsche Islamkonferenz zeigt, wie seitens des Staates gemeinsame Vereinbarungen getroffen werden können. Grundlage hierfür sind die deutsche Rechtsordnung und die Werteordnung des Grundgesetzes. Sie sind auf gleichberechtigte Teilhabe angelegt, wenden sich aber umgekehrt auch entschieden gegen jede Form von Extremismus, gegen Islamfeindlichkeit ebenso wie gegen Antisemitismus und gegen Islamismus im Sinne eines religiös begründeten Extremismus unter Muslimen. Aktuell diskutiert die Deutsche Islamkonferenz, wie in Zukunft ein islamischer Wohlfahrtsverband analog zu Diakonie und Caritas entwickelt werden kann. Ein islamischer Wohlfahrtsverband, der in Deutschland verankert ist, plural angelegt und weltoffen, kann ein wichtiges Element unserer Gesellschaft werden. Gerade beim Thema Pflege in unserer alternden Gesellschaft wird es notwendiger werden, kultursensible Angebote im Sinne einer subsidiären Vielfalt zu gewährleisten. Die Nachfrage nach islamischen Pflegeeinrichtungen und Altenheimen besteht und sie wird steigen.

Zur Förderung gleichberechtigter Teilhabe gehört natürlich nicht nur der organisierte Dialog des Staates mit den muslimischen Gemeinschaften auf Bundesebene, sondern auch die Weiterentwicklung auf Länderebene, wie es Nordrhein-Westfalen mit dem Körperschaftsstatusgesetz vorgemacht hat, oder die Erweiterung des Religionsunterrichts in der Schule. Zu Letzterem zählen in erster Linie bedarfsgerechte Angebote für muslimische und alevitische SchülerInnen – aber auf Dauer auch die Entwicklung eines integrativen, interreligiösen Konzeptes, das den Erfordernissen einer pluralen Gesellschaft gerecht wird. Hier hat die EKD eine sehr anregende Diskussionsgrundlage vorgelegt.10

3. Diskurs über Religion in einer offenen Gesellschaft – Gemeinsam Extremismus entschieden bekämpfen

Es wäre zu kurz gegriffen, bei der Gestaltung der pluralen Gesellschaft nur auf den Staat und die Religionsgemeinschaften zu schauen. Hier ist die Zivilgesellschaft und hier sind auch die Parteien gefordert, über gemeinsame Werte und Regeln zu debattieren. Zum Diskurs zählt auch ein klarer gemeinsamer Kampf gegen Intoleranz und rechtsextreme sowie antisemitische und antiislamische Einstellungen. Antisemitismus hat leider auch in Deutschland wieder in erschreckender Weise zugenommen. Unter dem Deckmantel von Israelkritik werden alte antijüdische Vorurteile wieder hoffähig. Angesichts der Demonstrationen von Pegida wird leider deutlich: Eine plurale und weltoffene Gesellschaft muss sich mit Rechtsextremismus auseinandersetzen. Das Engagement gegen Rechts ist und bleibt eine zentrale Aufgabe für alle Demokratinnen und Demokraten.

4. Innere Pluralität als Ressource begreifen

Die Sozialdemokratie ist von ihrem Selbstverständnis her auf Pluralität angelegt. Diese gilt es wahrzunehmen und zu nutzen. Stärker noch als bisher wird also sozialdemokratische Religionspolitik darauf bedacht sein müssen, dass sich in allen Feldern sozialdemokratischer Politik möglichst viele Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven beteiligen können. Die erste gemeinsame Tagung der drei Arbeitskreise von christlichen, jüdischen und muslimischen SozialdemokratInnen hat gezeigt, dass die Sozialdemokratie ein gutes verbindendes Drittes ist, das über Unterschiede hinweg eine Plattform für gemeinsames Handeln bereitstellt. Dadurch werden neue Netzwerke und Arbeitszusammenhänge entstehen. Wenn dies gelingt, kann die Sozialdemokratie wichtige Impulse auch für andere Organisationen geben.

Bereits diese kleine Skizze zeigt, dass künftige sozialdemokratische Religionspolitik mehr noch als früher die gesamtgesellschaftliche Entwicklung im Auge haben muss. Die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen unterschiedlicher Bekenntnisse und Religionsgemeinschaften an den fördernden Strukturen des Grundgesetzes und am gesellschaftlichen Leben, ihre subsidiäre Beteiligung an den Bildungs- und Sozialangeboten unseres Landes, das Zurückdrängen von undemokratischen Fundamentalismen sind wichtige Ziele – für ein gutes und solidarisches Miteinander in einem pluralen weltoffenen Deutschland.

[1] Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt/ Main 1996, S. 99.
[2] Navid Kermani: Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime. München 2010, S. 37.
[3] Bischof Markus Dröge im Tagesspiegel vom 27.1.2015.
[4] Vgl. ausführlicher Rüdiger Reitz: Christen und Sozialdemokratie. Konsequenzen aus einem Erbe. Stuttgart 1983; Rainer Hering: „Aber ich brauche die Gebote …“ Helmut Schmidt, die Kirchen und die Religion. Studien der Helmut-und-Loki-Schmidt-Stiftung 8/9. Bremen 2012; Rainer Hering: Sozialdemokratie und Kirchen in Deutschland – ein historischer Rückblick; Wolfgang Thierse: So fern – so nah. 150 Jahre Sozialdemokratie und die Kirchen. Rede anlässlich einer Tagung des Arbeitskreises Christinnen und Christen in der SPD (AKC) gemeinsam mit der Evangelischen und Katholischen Akademie Berlin am 15.03. 2013.
[5] Wiederentdeckt durch Abraham de Wolf: Hugo Sinzheimer und das jüdische Gesetzesdenken im deutschen Arbeitsrecht. Berlin 2015.
[6] Zitiert nach Martin Greschat: Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen IV. Neukirchen-Vluyn 1997, S. 249.
[7] Zitiert nach Hans Prolingheuer: Kleine politische Kirchengeschichte. Köln 1985, S. 510.
[8] Zitiert nach Fried Wesemann: Kurt Schumacher. Frankfurt am Main 1952, S. 109.
[9] Hamburger Programm. Das Grundsatzprogramm der SPD. 2007, S. 39.
[10] Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der EKD. Gütersloh 2014.

Dieser Artikel ist mein Beitrag zu folgender in der Reihe Religion und Politik erschienenen Broschüre:
Kerstin Griese/Tuba Işık/Dietmar Molthagen/Wolfgang Thierse, Religion – Demokratie – Vielfalt. S. 13–19. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung 2015