Holocaust-Gedenktag: Lernen aus der Geschichte

Als ich mit 16 Jahren im Rahmen der evangelischen Jugendarbeit zum ersten Mal in der GedenkstĂ€tte des KZ Auschwitz war, hat mich das fĂŒr das ganze Leben geprĂ€gt. Ich war erschĂŒttert.
Von den Menschen, die grausam ermordet wurden, waren nur noch Haare, Brillen oder ihre Koffer zu sehen.

Mich hat irritiert, dass die Dokumente der TĂ€ter in meiner Sprache waren, auf deutsch. Die Menschen, in deren Land wir unterwegs waren, mussten die polnische Übersetzung lesen. Die TĂ€ter waren aus der Generation meiner Großeltern. Es waren Deutsche, die Polen mit unglaublicher Grausamkeit ĂŒberfallen haben, die zuerst die katholischen Priester inhaftiert und umgebracht haben und die das Bildungssystem, Kultur und Demokratie in Polen zerstört haben. Es waren Deutsche, die in dem sĂŒdpolnischen Ort Oƛwięcim das grĂ¶ĂŸte Grauen der Menschheitsgeschichte errichteten, indem sie die Juden Europas dorthin deportierten, quĂ€lten und massenhaft ermordeten. „Vernichtung durch Arbeit“ hieß das grausame Programm der Nazis. Auschwitz ist der Ort, an dem der unbegreifliche Vernichtungswille der Nazis, der sich gegen Juden, politisch Andersdenkende, Sinti und Roma, Homosexuelle und Behinderte richtete, durch eine „industrielle“ Tötungsmaschinerie einen schrecklichen Höhepunkt erreicht hat.

Nichts hat mich in meinem Leben so sehr auf den Grund dessen gefĂŒhrt, warum es wichtig ist, sich politisch zu engagieren, wie der Besuch in Auschwitz und Birkenau. Niemand wieder hat mich in meinem Leben so beeindruckt, wie die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die ich erleben durfte. Wenn wir in dieser Woche der Befreiung des KZ Auschwitz vor 70 Jahren durch sowjetische Truppen am 27.1.1945 gedenken, dann tauchen vor meinem inneren Auge Bilder der Menschen auf, deren Lebensgeschichte ich kennen lernen durfte: Die Kinder aus der jĂŒdischen Schule in DĂŒsseldorf und ihr Lehrer, der Maler Julo Levin, die alle ermordet wurden und deren Zeichnungen gerettet wurden, als ein letztes Symbol ihres Lebenswillens und ihrer KreativitĂ€t. Ilse Neuberger, die resolute jĂŒdische Dame, die mit ihrem Mann Josef und dem Baby nach der Pogromnacht aus DĂŒsseldorf nach PalĂ€stina fliehen konnte, die nach dem Krieg gar nicht nach Deutschland zurĂŒck wollte, sich aber dem Willen ihres Mannes beugte, der spĂ€ter Justizminister in NRW wurde. Nach seinem Tod blieb sie dennoch in DĂŒsseldorf und erzĂ€hlte vielen Schulklassen ihre beeindruckende Lebensgeschichte. Die JĂŒdin, die zwar ĂŒberlebte, aber deren Kind ihr entrissen und ermordet wurde und die erst Jahrzehnte danach darĂŒber sprechen konnte. Die vielen, die als Kinder von ihren Eltern auf den „Kindertransport“ nach England geschickt wurden und nur dadurch ĂŒberlebten. Wir haben sie Jahrzehnte danach nach DĂŒsseldorf eingeladen. Es war ein schwerer Schritt fĂŒr sie, in die Heimat ihrer ermordeten Eltern zurĂŒck zu kehren.

Wenn heute wieder jeden Tag Jugendgruppen Auschwitz und Birkenau besuchen und in der Internationalen JugendbegegnungsstĂ€tte sind, können sie das wahnsinnige Ausmaß der Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz-Birkenau schon angesichts des riesigen GelĂ€ndes wahrnehmen. Jeder Jugendliche sollte eine GedenkstĂ€tte besuchen können und sollte – so lange es noch möglich ist – mit einer Zeitzeugin oder einem Zeitzeugen sprechen, oder in Zukunft persönliche Zeugnisse, Interviews, Fotos und Biographien kennen lernen. Denn die Begegnung mit Lebensgeschichten setzt der Entindividualisierung der Nazis etwas entgegen: ein Gesicht, einen Menschen mit Familie, mit einer Geschichte und mit einem eigenen Namen, keine eintĂ€towierte Nummer.

Ich habe nach dem ersten Besuch in Auschwitz, dem noch einige weitere folgten, begonnen, mich politisch zu informieren und zu engagieren. Ich habe die Lebensgeschichte von Willy Brandt begeistert gelesen. An meinem 19. Geburtstag bin ich in die SPD eingetreten, weil sie fĂŒr mich die einzige Partei war, die glaubwĂŒrdig gegen den Nationalsozialismus gestanden hat und weil Willy Brandt mit seiner Ostpolitik das scheinbar Unmögliche möglich gemacht hat: die Versöhnung mit den LĂ€ndern Osteuropas, denen unsere Vorfahren so unbeschreibliches Leid angetan haben. Die Bundesrepublik hat erst in den 60er Jahren, nach dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem und den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt, sehr langsam und unter vielen Konflikten begonnen, Verantwortung fĂŒr das Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu ĂŒbernehmen. Viele GedenkstĂ€tten sind gerade auf lokaler Ebene wie in Nordrhein-Westfalen erst durch das ehrenamtliche Engagement „von unten“ in den 80er Jahren erstritten wurden. Heute gibt es 25 GedenkstĂ€tten und zahlreiche Gedenkorte in Nordrhein-Westfalen.

Geschichte zu studieren, das war fĂŒr mich eine Konsequenz aus dem Besuch der GedenkstĂ€tte Auschwitz und dem daraus folgenden Nachdenken. Die BeschĂ€ftigung mit jĂŒdischer Religion und der Geschichte der Juden war fĂŒr mich mehr als ein Examensthema. Die Erinnerung an die Shoa, die Ermordung von sechs Millionen jĂŒdischen MĂ€nnern, Frauen und Kindern wach zu halten, ist notwendig, um die Zukunft gestalten zu können. Ich bin froh, dass es heute wieder jĂŒdisches Leben in Deutschland gibt. Dass ich 13 Jahre lang in der DĂŒsseldorfer Mahn- und GedenkstĂ€tte fĂŒr die Opfer des Nationalsozialismus arbeiten konnte, war fĂŒr mich weitaus mehr als ein Job. Die Begegnung mit unserer Geschichte im KZ Auschwitz hat mich nicht mehr los gelassen. Das Lernen aus der Geschichte fĂŒr die Zukunft ist fĂŒr mich das Lebensthema geworden.

Foto: Eingang des KZ Birkenau (Ausschwitz II) · von Bibi595 [CC BY-SA 3.0] Wikimedia Commons

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