Evangelischer Kirchentag: eine Dialogbibelarbeit

Verena Bentele, PrÀsidentin des Sozialverbands VdK, und Kerstin Griese haben auf dem Kirchentag eine Dialogbibelarbeit gehalten. Mit der Musik von Swinging Brass wurde es eine Stunde, die sich um Frauen und Vertrauen, um Kontrolle, Zuversicht und Glauben, um Politik und soziales Engagement drehte.

Dortmund - im EissportzentrumLiebe Kirchengemeinde,
wir begrĂŒĂŸen euch herzlich zu unserer Bibelarbeit. Als erstes lesen wir den heutigen Text, Lukas 7, Verse 36 bis 50.
Einer aus der phÀrisÀischen Bewegung lud Jesus zum Essen ein. Jesus kam in das Haus des PharisÀers und legte sich zu Tisch.
Und seht: Da war eine Frau, die in der Stadt als SĂŒnderin galt. Als sie erfuhr, dass Jesus im Haus des PharisĂ€ers zu Gast war, brachte sie ein AlabastergefĂ€ĂŸ mit Balsamöl.
Sie stellte sich von hinten zu seinen FĂŒĂŸen und begann zu weinen. Ihre TrĂ€nen benetzten seine FĂŒĂŸe. Mit ihren Haaren trocknete sie seine FĂŒĂŸe, kĂŒsste sie und salbte sie mit dem Öl.
Als der PharisĂ€er, sein Gastgeber, das sah, sagte er zu sich selbst: „Wenn er ein Prophet wĂ€re, wĂŒrde er erkennen, was fĂŒr eine Frau ihn da berĂŒhrt: eine SĂŒnderin!“
Jesus wandte sich ihm zu und sagte: „Simon, ich habe dir etwas zu sagen.“ Simon antwortete: „Sag es mir, Lehrer.“
„Zwei Leute hatten Schulden bei einem Geldverleiher. Der eine schuldete 500 Denare, die andere 50.
Sie waren nicht in der Lage, das Geld zurĂŒckzuzahlen. Da schenkte er es ihnen beiden. Wer von ihnen liebt den Geldverleiher mehr?“
Simon antwortete: „Ich vermute, der, dem er am meisten geschenkt hat.“ Jesus sagte zu ihm: „Du hast richtig geurteilt.“
Er drehte sich zu der Frau um und sagte zu Simon: „Siehst du diese Frau? Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser fĂŒr meine FĂŒĂŸe gegeben. Sie aber hat meine FĂŒĂŸe mit TrĂ€nen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet.
Du hast mich nicht mit einem Kuss begrĂŒĂŸt. Sie aber hat, seit sie hier ist, nicht aufgehört, meine FĂŒĂŸe zu kĂŒssen.
Du hast meinen Kopf nicht mit Öl gesalbt, sie aber hat meine FĂŒĂŸe mit Balsamöl gesalbt.
Deshalb sage ich dir: Ihre vielen SĂŒnden sind ihr vergeben, denn sie hat viel geliebt. Wem aber wenig vergeben wird, liebt wenig.“
Jesus sagte zu ihr: „Dir sind die SĂŒnden vergeben.“
Da fingen die anderen am Tisch an, untereinander zu reden: „Wer ist er, dass er auch SĂŒnden vergibt?
Jesus sagte zu der Frau: „Dein Vertrauen hat dich gerettet. Geh in Frieden.“

2. Exegese – historische Einordnung

Kerstin Griese:
Liebe Kirchentagsgemeinde, sehr verehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und BrĂŒder,
ganz schön viele Klischees auf einem Haufen versammelt. Das habe ich gedacht, als ich den Bibeltext in der Vorbereitung zum ersten Mal gelesen habe.
Das ist ja mal wieder typisch! Jesus kehrt bei einem PharisĂ€er ein, der natĂŒrlich sofort alles falsch macht und missversteht. PharisĂ€er sind in den Evangelien oft die Bösewichte. StĂ€ndig missverstehen sie Jesus. Sie stellen ihm oft rhetorische Fallen oder denken – wie hier im Bibeltext – heimlich, dass Jesus bestimmt ein falscher Prophet ist.
Das hat ĂŒber Jahrhunderte zu antipharisĂ€ischen – und antijĂŒdischen Auslegungen und Vorurteilen gefĂŒhrt. Ein „PharisĂ€er“ galt als verschlagen und als heuchlerisch. Oder als BetrĂŒger: Wenn man in Nordfriesland im Kaffee heimlich Schnaps trinken wollte, ohne dass es jemand bemerkt, dann bestellte man einen „PharisĂ€er“ – einen Kaffee mit Schuss und Sahne obendrauf, die den Geruch verdeckt. Das klingt vielleicht amĂŒsant – darin transportiert sich aber ein uraltes antijĂŒdisches Vorurteil.

Verena Bentele:
Und typisch ist ja wohl auch das Bild der Frau! Die Namenlose, die kein Wort sagt und hĂŒbsch devot zu den FĂŒĂŸen sitzt und still weint. Ist das die Art von Frömmigkeit, die der Text von uns erwartet?
Die Frau hat das Weinen als Äußerung von Emotionen, sie hat aber nicht die Worte um zu argumentieren oder etwas zu erklĂ€ren. Sie hat im Text keine Sprache um den Austausch zu pflegen, nur die Tat.

Kerstin Griese:
FĂŒr die PharisĂ€er zumindest sieht es auf den zweiten Blick schon anders aus. Eigentlich sind das Menschen, die sich besonders um die rechte Auslegung der Tora bemĂŒhen. Deshalb fragen sie Jesus stĂ€ndig nach seiner Auslegung der Schriften.
Die PharisĂ€er sind eine Gruppe, die sich um ein rechtes Leben vor Gott bemĂŒhen – und zwar ganz konkret: Wie verhalte ich mich korrekt, wie halte ich die geltenden Reinheits- und Speisegebote im Alltag ein? Sie haben den Fokus nicht so sehr auf den Kult im Tempel gelegt, sondern sich um das Studium der Tora und den Vollzug im Alltag gekĂŒmmert. Das war wahrscheinlich eine wesentliche Voraussetzung dafĂŒr, dass „das Judentum“ die Zerstörung des Tempels durch die Römer ĂŒberlebte. – Wobei es nicht „das eine“ Judentum gab, sondern ganz viele verschiedene jĂŒdische Strömungen.
Im Neuen Testament gibt es viele Beispiele dafĂŒr, dass die AnhĂ€nger Jesu sich mit PharisĂ€ern kritisch auseinandergesetzt haben. Aber das lag möglicherweise gar nicht daran, dass sie sich sehr von ihnen unterschieden haben, sondern im Gegenteil daran, dass sie sich in vielem sehr nahe waren.
Ich kenne das aus der Politik und auch aus der Kirche: Wer einem nahe ist, dem verzeiht man eine unterschiedliche Auffassung besonders ungern. Das sieht man doch bei so manchen Auseinandersetzungen.

Verena Bentele:
Der PharisĂ€er hatte ein klares Ziel: Er hat Jesus zu sich nach Hause eingeladen. Das zeigt schon, dass er NĂ€he und ExklusivitĂ€t herstellen wollte. Über die Speisen erfahren wir nichts im Text. Denn das Essen war ja nicht in erster Linie zum Sattwerden da. Das Essen war eher, wie wir heute sagen wĂŒrden, ein Meeting, es ging um soziale Kontakte. Sozusagen der Chatroom der antiken Jesusbewegung. Wenn der PharisĂ€er Simon Jesus hier einlĂ€dt, dann sagt er damit öffentlich: Mit dem stehe ich im Austausch. Ich will hören, was der zu sagen hat.
Mich irritiert eher, dass es wieder Mal nur die MÀnner sind, die zu Wort kommen. Eigentlich eine spÀte Genugtuung, dass nun wir zwei Frauen den Text auslegen, was Kerstin?
Aber im Ernst: Die Frau „galt in der Stadt als SĂŒnderin“. War sie ĂŒberhaupt eine SĂŒnderin? Ich denke da gleich an ĂŒbles Gerede, an Leute, die sich das Maul ĂŒber die Frau zerreißen. Wir erfahren nur indirekt etwas ĂŒber die Frau. Sie stellt sich hinten zu Jesu FĂŒĂŸen und hat ein AlabastergefĂ€ĂŸ mit Öl, mit dem sie Jesu FĂŒĂŸe salbt. Ich stelle mir das so vor, dass die Herren zu Tische liegen. So war das in der Antike, man saß nicht am Tisch sondern lag auf bequemen Liegen. Die Frau steht dann wohl am Fußende. Sie weint.

Bentele und GrieseKerstin Griese:
Weint sie aus Scham?

Verena Bentele:
Vielleicht. Oder, weil alle sie fĂŒr eine SĂŒnderin halten – und sie ganz allein ist. Vielleicht hat sie auch Angst, gleich rausgeschmissen zu werden. Frauen waren normalerweise nicht bei solchen Essen dabei – zumindest nicht als GĂ€ste. Auf jeden Fall trocknet sie Jesus die trĂ€nennassen FĂŒĂŸe mit ihren Haaren.
Diese wenigen Informationen bieten Anlass zur Spekulation. Haare haben in der Antike oft eine erotische Konnotation. Bis heute gelten Haare ja in einigen Kulturen als etwas Erotisches, das zwischen zwei Liebenden allein geteilt werden soll. Und auch das AlabastergefĂ€ĂŸ wĂ€re fĂŒr antike Zuhörerinnen ein Hinweis gewesen. Es gibt alte Abbildungen, auf denen Prostituierte mit solchen GefĂ€ĂŸen gezeigt werden. Sie salbten die MĂ€nner mit kostbaren Ölen ein.

Kerstin Griese:
Mir fĂ€llt auf, dass die Beschreibung der Frau sehr körperlich ist. Von den MĂ€nnern aber wird berichtet, was sie denken. Das ist zweitausend Jahre spĂ€ter nicht viel anders. In der Politik gibt es diesen doppelten Standard doch immer noch. Über Frauen wird stĂ€ndig berichtet, wie sie aussehen, was sie anhaben, wie hoch oder tief, laut oder leise ihre Stimme ist. MĂ€nner werden da immer noch anders wahrgenommen.
Aber Jesus sieht die Frau ja anders als die, die sich das Maul zerreißen. Er stellt die SĂŒnderin, die Prostituierte, der Stadtgemeinschaft als Vorbild vor Augen. Das passt ja auch zu allem, was wir sonst so von Jesus und den Frauen wissen. Er ist Frauen auf Augenhöhe begegnet. Sie spielten in seinem Leben eine wichtige Rolle.
Unter den Menschen, die Jesus folgten, waren Frauen und MĂ€nner. Er scheint keinen Wert auf Geschlechtertrennung gelegt zu haben. Unmittelbar auf diesen Bibeltext folgt im Lukasevangelium der ausdrĂŒckliche Hinweis darauf, dass unter denen, die Jesus folgten, Frauen waren, „die [Jesus] gesund gemacht hatte von bösen Geistern und Krankheiten“ (Lk 8,2). Es sind Frauen, die Jesus bis zuletzt die Treue halten und ihn auch am Kreuz nicht verlassen und es sind Frauen, denen Jesus als Auferstandener zuerst erscheint.

Verena Bentele:
Ja, das stimmt schon. So gesehen hinterfragt diese Geschichte die offensichtlichen Werte. Die Frau, die von der Stadtgesellschaft ausgestoßen wird, nĂ€hert sich Jesus auf physisch vertrauliche und vertraute Weise, ohne Worte, ohne Interpretation. Vielleicht ist die Ausgestoßene ja die Expertin fĂŒr Vertrauensfragen?

3. Theologische Zuspitzung

Kerstin Griese:
FĂŒr mich sind zwei Worte in dieser Geschichte zentral. Eines steht am Anfang und eines am Ende. Am Anfang ist von SĂŒnde die Reden. Und am Ende spricht Jesus von Vertrauen. Ich bin ja Tochter eines evangelischen Pfarrers, deshalb habe ich hier die berĂŒhmte Übersetzung der Lutherbibel im Kopf: „Dein Glaube hat Dir geholfen.“ Diesen Satz mochte ich schon immer.
SĂŒnde dagegen ist fĂŒr mich ein sperriger Begriff. Da denke ich gleich an eine verquere Moral, die den Alltag in gute und schlechte Taten einteilt. Vor so einer SĂŒnde hat man dann immer Angst, es ist das Gegenteil von Freiheit.

Verena Bentele:
Genau! Ich habe gestern gesĂŒndigt und zwei Kugeln Schokoeis mit Erdbeeren gegessen! Ich bin Katholikin und habe als Kind, beispielsweise in der Vorbereitung auf die erste Kommunion, die SĂŒnde immer mit einer Art Schauer erlebt. Du bist Mensch und damit SĂŒnder. Aber Du kannst beichten gehen, um Vergebung bitten, und alles ist wieder gut. Das Konzept SĂŒnde löst einen Erwartungsdruck aus, du musst funktionieren, dich so verhalten wie alle, sonst wird es teuer.

Kerstin Griese:
Ja, oder die „VerkehrssĂŒnder“, ĂŒber die sich jeder aufregt. Im Kontext der Geschichte der Frau, die „als SĂŒnderin galt“, denke ich aber auch an eine verklemmte Sexualmoral. Die sĂŒndigen Frauen verfĂŒhren dann wie Eva mit dem sĂŒĂŸen Apfel in der Hand die armen MĂ€nner. Und ich denke auch daran, was eine autoritĂ€re Sexualmoral in der Kirche fĂŒr ein Unheil angerichtet hat – und an einigen Stellen wohl immer noch anrichtet!
In der Bibel ist mit SĂŒnde aber eigentlich ein Verhalten oder ein Zustand gemeint, in dem man sich im Widerspruch zu Gott befindet. Dabei geht es nicht um Moral, sondern um das VerhĂ€ltnis zu Gott. Der Theologe Rudolf Bultmann hat gesagt, dass SĂŒnde ein „verkehrtes Trachten“ ist, „das das eigentliche Sein des Menschen verfehlt.“ Die wahre SĂŒnde ist demnach „der Wahn, das Leben nicht als Geschenk des Schöpfers zu empfangen, sondern es aus eigener Kraft zu beschaffen, aus sich selbst statt aus Gott zu leben.“
Diese Versuchung kennen wir doch alle – ich oute mich jetzt zumindest mal: Wir haben so viel zu managen und so viel zu tun, dass man manchmal fast der Versuchung erliegt, alles zu kontrollieren, alles selbst in die Hand zu nehmen.
Dies ist die SĂŒnde. Nicht der Klatsch und Tratsch, ĂŒber den die Stadt in Bezug auf die Frau lĂ€stert.

Verena Bentele:
Und da sind wir schon beim Vertrauen, dem zweiten Begriff, den Du angesprochen hast, Kerstin.
Unser natĂŒrlicher Impuls ist die Kontrolle. Wenn wir etwas fachlich und sachlich begreifen und erklĂ€ren können, dann sind wir alle sehr beruhigt. Kontrolle ist eine Form der Struktur, die uns Sicherheit bietet. Die MĂ€nner am Tisch in unserer Geschichte suchen ihre Sicherheit im Wort. Die Frau jedoch verliert die Kontrolle, weint, und kommt Jesus nah. Wenn ich etwas erreichen möchte, dann ist auch in meinem Leben die Kontrolle irgendwann zu Ende. Mir hilft nur das Vertrauen, zum Beispiel wenn ich im Sport mit 40 Stundenkilometern meinem BegleitlĂ€ufer den Berg hinunter folge. Nur durch Vertrauen kann ich die Goldmedaille gewinnen.

Kerstin Griese:
Genau. Wir haben ja in Vorbereitung dieser Bibelarbeit lĂ€nger ĂŒber Vertrauen und Glauben geredet. Ist das dasselbe? Wie hĂ€ngt beides zusammen?

Verena Bentele:
FĂŒr mich ist Glaube der Grund, der Sinn zu vertrauen. Wir haben das geschenkte Urvertrauen als Kinder, jedoch wird dieses immer wieder erschĂŒttert. Wer Vertrauen möchte, der muss an etwas glauben um nicht zu verzagen. Wenn wir keinen Glauben haben, haben wir keine Ziele. Vielleicht braucht nicht jeder Glaube ein konkretes Ziel, wie den Gipfel der Zugspitze. Aber die Ziele oder GegenstĂ€nde oder Bilder im Kopf helfen uns zu glauben.
Ich war lange Profisportlerin, Ziele im Sport sind unfassbar wichtig, denn nur das konkrete Ziel lĂ€sst mich durchhalten wenn es schwierig wird. Nur der Wunsch nach einer Medaille lĂ€sst mich schneller laufen wenn der Berg kein Ende nimmt und die Beine brennen. Vertrauen heißt fĂŒr mich: Ich lasse los, der Glaube an mein Ziel beflĂŒgelt mich und lĂ€sst mich vertrauen in meine FĂ€higkeiten, lĂ€sst mich aber auch in andere Menschen als Wegbegleiter vertrauen.
Als ich 2009 bei einem Wettkampf starten wollte, hat mein BegleitlĂ€ufer damals rechts und links verwechselt. Die Folge war, dass ich 3 Meter einen Abhang hinuntergefallen bin. Dieses Erlebnis hat mein Vertrauen in die Menschen, die mich doch im Sport unterstĂŒtzen sollen, sehr erschĂŒttert.
Am Ende hat mir ein neues Ziel, der Glaube an die nÀchste Goldmedaille bei den Paralympics in Vancouver, sehr geholfen. Durch den Glauben an dieses Ziel war ich wieder in der Lage loszulassen. Egal ob ich als Sportlerin, oder heute als PrÀsidentin des Sozialverbandes VdK, Ziele habe, muss ich an diese glauben. Daher denke ich, dass der Glaube Ziele braucht und die Ziele wichtig sind um zu vertrauen. Im Vertrauen steckt ja auch sich etwas zu trauen. Mit dem Glauben an ein Ziel trauen wir uns sicher mehr zu als ohne Ziel und ohne Glaube daran.

Kerstin Griese:
Das ist toll. Aber mir ist nich etwas anderes wichtig. Ich weiß nicht, ob man vertrauen „lernen“ kann, wie Du das beschreibst, Verena. Ich finde, Glauben ist immer auch etwas Geschenktes, UnverfĂŒgbares. Man entscheidet sich ja nicht unbedingt dafĂŒr, dass das Gottvertrauen fehlt. In der Bibel ist „Glauben“ die Antwort auf Gottes Handeln. Glauben ist immer beides, ein Geschenk und eine Offenheit fĂŒr dieses Geschenk. Sozusagen eine hoffnungsvolle ZukunftseinschĂ€tzung. Die Zuversicht, dass es gut gehen könnte. Davon bin ich auch in der Politik motiviert. Gerade in schwierigen Zeiten, wie ich sie in den letzten Monaten in meiner Partei, der SPD, erlebe, mĂŒsste man ohne Zuversicht verzagen.
So begegnet ja auch unsere Frau Jesus. Sie weiß, dass sie einen schlechten Ruf hat. Und sie macht sich Sorgen, schĂ€mt sich vielleicht, weint sogar. Aber sie kommt in der Hoffnung zu Jesus, dass es gut ausgehen könnte. So ist sie die eigentliche VertrauenskĂŒnstlerin der Geschichte.
Darauf folgt eine Begegnung. Sie trifft auf Jesus – und Jesus lĂ€sst sich von ihr berĂŒhren. Das finde ich richtig symbolisch fĂŒr unsere Gesellschaft heute. Wenn wir es schaffen wĂŒrden, einander mit einem Vertrauensvorschuss zu begegnen, wenn wir uns voneinander – von unseren Schicksalen und Erfahrungen – berĂŒhren ließen, dann wĂ€re viel gewonnen.
Und noch etwas ist mir wichtig: Der Glaube fĂŒhrt sie in die Tat. Sie sitzt nicht zuhause und glaubt vor sich hin. Der Glaube macht, dass sie sich aufmacht und in das fremde Haus hineingeht.

Verena Bentele:
Das finde ich auch spannend. Der Glaube an Jesus fĂŒhrt in die Tat. Die Frau lĂ€sst los, lĂ€sst sich nicht von den Bedenken aufhalten und vertraut. Das meine ich mit Zielorientierung im Sport – und nicht nur im Sport. Die Überzeugung fĂŒr eine Sache, fĂŒr ein Ziel, hilft auch in der Politik beim Einstecken von RĂŒckschlĂ€gen.
Die Frau in unserer Geschichte ist NĂ€he zu Jesus, ist der wunsch angenommen zu werden.
Das ist ein wunderschönes Ziel, Menschen annehmen zu können wie sie sind – und sich selbst angenommen zu fĂŒhlen.

Kerstin Griese:
FĂŒr mich ist der Glaube auch in meinem politischen Leben eine Antriebskraft. Das heißt nicht, dass ich vor jeder Abstimmung im Bundestag schnell mal in der Bibel nachblĂ€ttere, wie ich abstimmen muss. Denn da steht ja – zum GlĂŒck – nicht, wie genau die Grundsteuer geregelt werden muss, welche Rentenpunkte fĂŒr die Grundrente gelten sollen oder wie das Freiwillige soziale Jahr gestaltet werden soll.
Aber einen Kompass fĂŒr die Richtung meines Handelns, die gibt mir mein Grundvertrauen schon. Ich muss den Kompass aber selbst aktiv orten. Ich muss mich selber fragen, welche Politik ich mit meinen christlichen Grundwerten machen kann und will. Und dann finde ich in der Bibel die Grundwerte von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

4. Aktualisierung: Vertrauen in die Gesellschaft

Verena Bentele:
Das Thema Vertrauen ist heute in der Gesellschaft so aktuell und wichtig wie vor 2000 Jahren. Ich halte das fĂŒr die große gesellschaftliche Herausforderung – neben dem Klimawandel vielleicht. Die Fragen heute drehen sich um das Vertrauen in den Sozialstaat, das Vertrauen in die Zukunft, in den Wahrheitsgehalt von Informationen. Viele Menschen haben eine kaum zu begreifende Angst vor der Zukunft. Ich erlebe heute, dass viele Menschen nicht mehr in politisches Handeln vertrauen. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass viele junge Menschen nicht mehr an unser Rentensystem glauben. Wenn heute immer wieder thematisiert wird, dass die alten Menschen auf Kosten der JĂŒngeren leben, dann finde ich das nicht förderlich fĂŒr ein Grundvertrauen und ein gesellschaftliches Miteinander. Aber genau dieses vertrauensvolle Miteinander ist so wichtig um Herausforderungen zu schaffen. Viele Menschen haben einerseits Angst davor, dass die Digitalisierung ihren Job auffrisst und sie bald nicht mehr gebraucht werden. Auch in diesem Fall ist es eine der großen Aufgaben der politisch Handelnden, dass die Sorge nicht das Vertrauen verdrĂ€ngt. Wenn einige ArbeitsplĂ€tze wegfallen, wird es dafĂŒr andere geben. Die Aufgaben in einer Gesellschaft gehen jedenfalls nicht aus. Vertrauen der Menschen in die Politik zurĂŒckzugewinnen könnte so aussehen, dass gesellschaftliche Aufgaben wie Pflege, die UnterstĂŒtzung von Kindern oder ökologische Projekte einen höheren Wert bekommen. Diese Aufgaben werden von der Digitalisierung nie vollstĂ€ndig ĂŒbernommen werden können.
Oftmals begegnen die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger dem Staat nicht unbedingt mit Vertrauen – und der Staat den Menschen auch nicht, oder Kerstin?

Kerstin Griese:
Es muss uns Politikerinnen und Politiker sehr besorgen, wenn Menschen dem Staat nicht mehr mit Vertrauen begegnen. Ich erlebe gerade, wie diese Verdrossenheit von rechtsaußen auch noch angeheizt wird. Wenn AfD-Abgeordnete im Bundestag oder im Internet voller Verachtung ĂŒber unsere parlamentarische Demokratie sprechen, wenn sie jedes Thema nur noch gegen FlĂŒchtlinge kehren und wenn sie ihrem Rassismus und ihrer Geschichtsvergessenheit freie Bahn lassen – dann ist das brandgefĂ€hrlich.
Ich will sehr konkret daran arbeiten, dass Menschen dem Staat und der Solidargemeinschaft vertrauen können. Ich denke ganz konkret an das wichtigste Versprechen des Sozialstaates: Alle Menschen mĂŒssen sich darauf verlassen könne, dass sie nach einem Leben voller Arbeit im Alter gut abgesichert sind. Deshalb sorgen wir fĂŒr die Stabilisierung des Rentenniveaus. Deshalb bin ich dafĂŒr, dass wir eine echte Grundrente einfĂŒhren, die den Namen auch verdient hat und die Lebensleistung anerkennt – ohne eine BedĂŒrftigkeitsprĂŒfung. Ich bin fĂŒr einen Mindestlohn von denen man leben kann. Ich setze mich dafĂŒr ein, dass PflegekrĂ€fte besser bezahlt werden, damit sie ihren Job gut und gerne machen können und damit jede und jeder sich sicher sein kann, dass man im Alter gut gepflegt wird.
Auch die Angst, die eigene Wohnung zu verlieren und keine neue zu finden, die man im vertrauten Viertel bezahlen kann, trĂ€gt zu einer tiefen Verunsicherung bei. Deshalb brauchen wir in den GroßstĂ€dten eine Begrenzung der Mieten. Und nicht zuletzt – eigentlich zuallererst – ist mir wichtig, dass alle Kinder gute Chancen haben, dass sie geschĂŒtzt und mit guten Bildungschancen aufwachsen. DafĂŒr engagierte ich mich aus tiefster Überzeugung.
Gerade als Politikerin spĂŒre ich aber die Ängste und den Vertrauensverlust, von dem Du sprichst, Verena.

Verena Bentele:
Ich bin PrĂ€sidentin eines großen Sozialverbands mit zwei Millionen Mitgliedern. Und ich denke seit LĂ€ngerem darĂŒber nach: Warum vertrauen unsere Mitglieder genau in unseren Verband? Was bieten wir ihnen an, was sie bei Parteien nicht finden?
Wir bieten eine Rechtsberatung an und unterstĂŒtzen unsere Mitglieder ganz greifbar darin, zu ihrem Recht zu kommen.
Ein anderer Grund ist sicher auch, dass unsere Forderungen und Überzeugungen eine verlĂ€ssliche GrĂ¶ĂŸe sind. Wir sind nicht von Koalitionen abhĂ€ngig und mĂŒssen unsere Vorstellungen nicht fĂŒr 4 Jahre zurĂŒckstellen.
Nehmen wir die Krankenversicherung: Als VdK-PrĂ€sidentin bin ich, genau wie meine VorgĂ€nger, fĂŒr eine Versicherung fĂŒr alle BĂŒrger, gegen eine zwei-Klassen-Medizin. Das fordern wir seit vielen Jahren.
Ich denke, dass unsere Mitglieder bei uns weniger VertrauenserschĂŒtterungen erleben, als sie das vielleicht in Parteien tun, wo der Kompromiss an der Tagesordnung ist. Wir entwickeln Visionen, ihr mĂŒsst den mĂŒhsamen Weg von der Idee zur Umsetzung, von der Vision in die RealitĂ€t der Koalitionen finden.

Kerstin Griese:
Einspruch! Wir entwickeln auch Visionen.

Verena Bentele:
Ich dachte, wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.

Kerstin Griese:
Vor vielen Jahren hat das mal ein SPD-Politiker gesagt und ich fand das schon immer einen doofen Spruch.
Spaß beiseite. Ich halte das fĂŒr einen ganz wichtigen Punkt. Die Wahrheit ist doch, dass der Kompromiss abgemeldet ist in unserer schnellen Zeit, in der ein flotter Tweet mehr Menschen erreicht als eine komplizierte Diskussion mit ganz vielen NebensĂ€tzen.
Demokratische Aushandlungsprozesse fĂŒhren zum Kompromiss. Und obwohl wir hier wohl alle zustimmen wĂŒrden, dass der Kompromiss wichtig ist, tut er im realen Einzelfall dann oft richtig weh. Ein sozialdemokratischer Kanzler hat mal gesagt: „Entscheidung durch eine Parlamentsmehrheit setzt bei den vielen Einzelnen die FĂ€higkeit und den Willen zum Kompromiss voraus! (
) mit dem Kompromiss [ist dann allerdings] oft ein Verlust an Stringenz und Konsequenz des politischen Handelns verknĂŒpft.“
Wir spĂŒren gerade an Wahlergebnissen, was so ein Verlust der Stringenz bedeuten kann. Aber ich bin ĂŒberzeugt, dass es notwendig ist, der Sehnsucht nach „reiner Lehre“, nach einhundertprozent-oder-nichts-MentalitĂ€t nicht nachzugeben, wenn man tatsĂ€chlich etwas fĂŒr die RealitĂ€t der Menschen erreichen will.
Da habt ihr es in einen Verband tatsĂ€chlich leichter als wir, die politisch Verantwortung ĂŒbernommen haben, denn ihr könnt immer die „reine Lehre“ fordern. Ich glaube, es braucht am Ende beides. Starke VerbĂ€nde und starke Parteien.

Verena Bentele:
Das finde ich auch!

5. Ausblick

Verena Bentele:
Am Ende ist unsere Geschichte eine Werbung fĂŒr Vertrauen. Und eine Werbung dafĂŒr, sich aufzuraffen. „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr euch weist. Weil Leben heißt: sich regen! Weil Leben wandern heißt.“
Die SĂŒnderin unserer Geschichte weiß ja nicht, dass Jesus sie akzeptieren wird. Dass Jesus sich von ihr berĂŒhren lĂ€sst. Sie glaubt daran.
Vertrauen ist eine so wichtige Ressource fĂŒr uns alle. Vertrauen heißt auch, dass wir uns entspannen können, dass wir uns sicher und aufgehoben fĂŒhlen. Am Anfang hast Du von der SĂŒnde gesprochen. FĂŒr mich ist es fast eine Art SĂŒnde, wenn wir meinen, dass wir alles kontrollieren können.
Der Titel meines Buches ist auch mein Motto: „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.“ Kontrolle fĂŒhrt vielleicht ans Ziel, Vertrauen fĂŒhrt auf eine andere Ebene. Vertrauen bringt uns andere Menschen erst richtig nah und hilft mir beim Sprung aufs Siegertreppchen.

Kerstin Griese:
„Vertraut den neuen Wegen“; das ist auch eines meiner Lieblingslieder und wir singen es ja in der evangelischen Kirche sehr oft und gerne.
Um noch einmal auf unsere Bibelstelle zu kommen: Dem Konflikt in der Stadt setzt auch Jesus etwas entgegen. Die Stadt redet ĂŒber „die SĂŒnderin“. Und Jesus sagt: Wer viel liebt, dem wird viel vergeben.
Ich erinnere mich gerne an Begegnungen mit Franz MĂŒntefering, er hat oft Hanna Ahrendt zitiert: „Politik ist angewandte Liebe zum Leben.“ Das gefĂ€llt mir gut. Das ist fĂŒr mich auch eine Richtschnur. Das bedeutet fĂŒr mich einen Glauben, der in die Tat fĂŒhrt. Das Engagement fĂŒr Menschen in Not, der Einsatz fĂŒr eine solidarische, freie und friedliche Gesellschaft.
Mir ist der Einsatz fĂŒr eine humanitĂ€re FlĂŒchtlingspolitik sehr wichtig. Danke, dass der Kirchentag hier ein Zeichen setzt!
Mir ist der Einsatz fĂŒr ein solidarisches Miteinander in der Gesellschaft sehr wichtig, wo nicht alt gegen jung, arm gegen reich, gesund gegen krank gegeneinander ausgespielt werden. Ich will, dass starke Schultern mehr tragen als Schwache, dass alle teilhaben können, eine inklusive Gesellschaft.
Urprotestantisch ist die Geschichte von der SĂŒnderin und ihrem großen Vertrauen. Am Anfang unserer Geschichte ist von SĂŒnde die Rede. SĂŒnde ist dabei nichts moralisches, sondern fehlende Offenheit fĂŒr das, was Gott fĂŒr seine Schöpfung gewollt hat. Das ist nichts, was man machen oder Ă€ndern kann. Das ist einfach da. Nicht nur in der SĂŒnderin, sondern in der ganzen Stadt.
Aber am Ende der Geschichte steht, dass das Vertrauen sie gerettet hat. Und sie kann in Frieden gehen. Das wĂŒnsche ich Ihnen und Euch, meine Damen und Herren, liebe Schwestern und BrĂŒder auch. Vielleicht können wir etwas von diesem Frieden spĂŒren, wenn wir gleich noch einmal Musik zum Ausklang hören, und danach einen weiteren vollen Kirchentagstag erleben. Mit vielen Gelegenheiten, sich von anderen Menschen und ihren Geschichten berĂŒhren zu lassen.
Ich jedenfalls trage dieses Grundvertrauen immer bei mir. Auch wenn man Misstrauen erlebt. Auch in schweren Situationen, wie wir sie gerade in meiner Partei erleben. Es lohnt sich, den Menschen und dem Leben mit Grundvertrauen zu begegnen. Weil auch Gott den Menschen mit Grundvertrauen begegnet.
Die Kirchentagslosung ‚Was fĂŒr ein Vertrauen‘ verdeutlich fĂŒr mich Mut und Zukunftszuversicht. In einer Welt, in der sich Verunsicherung breit macht, ist es gut, dass sich Christinnen und Christen gemeinsam zeigen wollen, dass Vertrauen fĂŒr Ermutigung sorgt.
Was fĂŒr ein Vertrauen!