Nicht nur die FlĂŒchtlinge und die Willkommenskultur waren Thema auf dem Neujahrsempfang der DĂŒsseldorfer Graf Recke Stiftung. Es ging auch um Menschen, die hier aufgewachsen sind und am Rande der Gesellschaft leben, Menschen mit Behinderung und die Ă€lter Werdenden.
» Graf Recke Stiftung: Neujahresempfang

Kerstin Griese, Mitglied im Kuratorium der Graf Recke Stiftung, redet auf dem Neujahrsempfang in der Graf Recke Kirche.
Unser Land verĂ€ndert sich. Wir haben die Bilder vor Augen: von den vielen Geflohenen, die bei uns Schutz suchen, die aus Krieg, Terror und Gewalt zu uns gekommen sind und oft einen schlimmen Fluchtweg hinter sich haben. Und die vielen Menschen, die seit Monaten in ihren StĂ€dten und Gemeinden die FlĂŒchtlinge willkommen heiĂen, ihnen an den Bahnhöfen entgegen kommen, Betten aufbauen, Kleidung spenden, Lebensmittel verteilen, zusammen kochen und spielen, bei ĂmtergĂ€ngen helfen und vieles mehr. Ich habe in den letzten Monaten oft das GefĂŒhl, dass die FlĂŒchtlinge in unserem Land eine Seite geweckt haben, von der wir gar nicht wussten, dass es sie gibt. Dass so viel Kraft und Energie gespendet wird, um Menschen zu helfen, das ist groĂartig, und alle, die sich haupt-oder ehrenamtlich dort engagieren, haben ein groĂes Dankeschön verdient.
Wie wir mit den FlĂŒchtlingen umgehen, wie wir sie aufnehmen und sie in unsere Gesellschaft integrieren, das wird fĂŒr unsere Zukunft und auch fĂŒr das Bild Deutschlands in der Welt entscheidend sein. Es hat mich in dieser Woche sehr berĂŒhrt, dass die Holocaust-Ăberlebende Ruth KlĂŒger, 84 Jahre alt, im Bundestag in der Gedenkstunde gesagt hat, dass âdieses Land, das vor 80 Jahren fĂŒr die schlimmsten Verbrechen verantwortlich war, heute den Beifall der Welt gewonnenâ hat.Nach der Registrierung, Unterbringung und ersten Versorgung geht es in den nĂ€chsten Jahren um die Integration der Menschen, die zu uns geflohen sind und die bei uns bleiben. Das ist die noch gröĂere Aufgabe. Um ihnen eine rasche Integration in unsere Gesellschaft zu ermöglichen, braucht es vor allem drei AnsĂ€tze: Sprache, Bildung und Arbeit. Deshalb beschĂ€ftigen wir uns in der Politik zurzeit nahezu dauernd mit dem Ausbau von Integrations- und Sprachkursen, mit Kita- und SchulplĂ€tzen, mit finanzieller UnterstĂŒtzung der LĂ€nder und Kommunen und â im Ausschuss fĂŒr Arbeit und Soziales â ganz besonders damit, wie Integration in Arbeit gelingen kann. In NRW haben wir mit dem Ausbau von âIntegration Pointsâ, speziellen Anlaufstellen der Arbeitsagenturen und Jobcenter fĂŒr FlĂŒchtlinge, bereits begonnen, das ist ein sehr sinnvoller Ansatz. Wir werden uns alle engagieren, damit aus Fremden Nachbarn, Kollegen und Freunde werden.
Integration kann nur mit Hilfe der vielen, vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer gelingen, die FlĂŒchtlinge willkommen heiĂen, unterstĂŒtzen, begleiten, sie aufnehmen und ihnen bei den ersten Schritten in ein neues Leben in einem fremden Land zur Seite stehen.
Letzte Woche habe ich zur praktischen Vorbereitung auf diesen Neujahrsempfang verschiedene Einrichtungen der Graf Recke Stiftung besucht und konnte mir vor Ort ein genaueres Bild von der Arbeit machen. Vielen Dank dafĂŒr. Und vielen Dank, dass es auch in der Graf Recke Stiftung heiĂt: Herzlich willkommen. In diesem Fall: Herzlich willkommen an unbegleitete minderjĂ€hrige FlĂŒchtlinge. In einer Aufnahmegruppe hier auf dem Campus Wittlaer konnte ich erleben, wie mit wie viel Engagement und Zuwendung die Jugendlichen dort betreut und unterstĂŒtzt werden, damit sie hier bei uns FuĂ fassen können. Manche von ihnen haben in ihren HerkunftslĂ€ndern und auf dem langen Weg zu uns Schreckliches erlebt und brauchen professionelle Hilfe, um diese traumatischen Erfahrungen verarbeiten zu können. Die Graf Recke Stiftung holt sie mit ihrer Arbeit in ihre Mitte.
2. Herzlich willkommen in der Mitte der Gesellschaft: Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben
Bei aller Energie, die wir, sei es in der Politik, in der sozialen Arbeit, im Ehrenamt, in den Kirchen, zurzeit in die FlĂŒchtlingsarbeit investieren, ist es ganz wichtig, die Menschen nicht aufzugeben, die bei uns aufgewachsen sind und die groĂe Probleme haben und die sich am Rande der Gesellschaft fĂŒhlen. Gerade deshalb ist es jetzt so wichtig, dass wir die Programme fĂŒr Langzeitarbeitslose nicht nur weiter fĂŒhren, sondern dass wir sie ausweiten und deutlich machen: Keiner wird vergessen. Das betrifft auch und ganz besonders Jugendliche, die Probleme haben und um die sich die Graf Recke Stiftung schon seit vielen Jahren intensiv kĂŒmmert. Mein Rundgang ĂŒber den Campus Wittlaer hat mich auch zu den Förderschulen der Graf Recke Stiftung gefĂŒhrt, wo Sie eine tolle Arbeit machen.
Sehr beeindruckt hat mich der Besuch einer sexualtherapeutischen Wohngruppe fĂŒr Jugendliche, die wegen Sexualdelikten vorbestraft sind und deren Strafe zur BewĂ€hrung ausgesetzt ist. 14-, 15-JĂ€hrige, die aufgrund der Schwere ihrer Delikte in anderen therapeutischen Einrichtungen gar nicht mehr aufgenommen wĂŒrden. Ihnen wird hier mit sehr hohem Betreuungsaufwand und sehr klaren Regeln eine Chance gegeben, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Ich bewundere das Engagement der Betreuerinnen und Betreuer, mit dem sie versuchen, dieser sehr schwierigen Klientel zurĂŒck in die Mitte der Gesellschaft zu helfen und sie nicht aufzugeben. Denn das ist eine Erfahrung, die sie oft im Leben machen mussten.
Die Förderung von Kindern und Jugendlichen, die oft aus schwierigen VerhĂ€ltnissen stammen und die UnterstĂŒtzung dabei, spĂ€ter ein selbstĂ€ndiges, selbstbestimmtes Leben fĂŒhren zu können, ist ja der Ă€lteste Bereich der Arbeit der Graf Recke Stiftung.
Menschen am Rande der Gesellschaft, das sind aber nicht nur die FlĂŒchtlinge und benachteiligte Kinder und Jugendliche, das sind auch Menschen mit psychischen Erkrankungen. Hier habe ich mich sehr gefreut, dass die Graf Recke Stiftung ein Modellprojektstandort fĂŒr die Inklusion von Menschen mit psychischen Erkrankungen geworden ist, eine immer gröĂer werdende Gruppe. Aber es geht auch um Menschen besonderen BedĂŒrfnissen, mit Behinderungen und es sind, in zunehmendem MaĂe, auch alte und pflegebedĂŒrftige Menschen.
3. Herzlich willkommen in der Mitte der Gesellschaft: Menschen mit Behinderung und Ăltere
In dieser Woche ist die erste Lego-Figur im Rollstuhl auf den Markt gekommen. Ein Junge im Rollstuhl â natĂŒrlich mit MĂŒtze, die trĂ€gt man ja Winter wie Sommer, weil das cool ist â gehört zum neuen City-Set. Lego hat anscheinend auf eine Petition reagiert, mit der ĂŒber 20.000 Menschen gefordert haben, auch Kinder mit Behinderung beim Spielzeug zu berĂŒcksichtigen. Denn in der Tat: die Inklusion von Menschen mit Behinderung ist eine ĂŒberfĂ€llige Aufgabe, die wir als Gesellschaft zusammen leisten mĂŒssen. Eine menschliche Gesellschaft ist immer eine inklusive Gesellschaft. Ein neues Bundesteilhabegesetz, an dem das Sozialministerium gerade intensiv arbeitet, wird demnĂ€chst vorgelegt. Wir wollen den besonderen Belangen und BedĂŒrfnissen behinderter Menschen gerecht werden. Unter dem Motto âNicht ĂŒber uns, ohne unsâ hat das Ministerium in den letzten beiden Jahren unter Beteiligung von BetroffenenverbĂ€nden VorschlĂ€ge fĂŒr ein zeitgemĂ€Ăes Teilhabegesetz erarbeitet. Die Richtung geht von der Ausgrenzung zur Inklusion, von der Einrichtungszentrierung auf die Personenzentrierung, von der Fremd- zur Selbstbestimmung, vom KostentrĂ€ger zum Dienstleister, von der Defizit- zur Ressourcenorientierung.
Verbesserungen bei der Einkommens- und Vermögensheranziehung in der Eingliederungshilfe sind ein intensiv diskutiertes Thema. Ich setze mich persönlich dafĂŒr ein, dass es dort deutliche Verbesserungen geben muss, denn es kann nicht sein, dass Menschen mit Behinderung zwar immer hĂ€ufiger Geld verdienen können, dass sie davon aber â fast â nichts haben.
Der Wechsel zu einem personenzentrierten, ressourcenorientierten Ansatz, zu Leistungen wie aus einer Hand soll das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen erleichtern. Ich weiĂ, dass Sie alle auf dieses neue Gesetz warten, muss Ihnen aber sagen, dass der zurzeit kursierende Entwurf erst im Vorstadium ist und noch nicht von der Ministerin autorisiert ist. Wir brauchen aber Ihre UnterstĂŒtzung, wenn es in den nĂ€chsten Monaten darum geht, daraus ein gutes Gesetz zu machen â und das auch beim Finanzminister durchzusetzen.
Lassen Sie mich zuletzt noch kurz auf die Ă€lteren und pflegebedĂŒrftigen Menschen eingehen. Das war ĂŒbrigens der wĂ€rmste Teil meines Rundganges, das Walter-Kobold-Haus, denn anscheinend gelten fĂŒr die unterschiedlichen Zielgruppen der Arbeit auch unterschiedliche Raumtemperaturen, in denen man sich wohl fĂŒhlt.
Die demografische Entwicklung in Deutschland gibt unserer Gesellschaft langsam aber sicher ein anderes, ein Ă€lteres Gesicht. Die Zahl der alten und der hochaltrigen Menschen steigt stetig. Diese Entwicklung wird flankiert durch die zunehmende ErwerbstĂ€tigkeit von Frauen, eine positive Entwicklung, und durch eine stĂ€rkere MobilitĂ€t berufstĂ€tiger Menschen. Alte und pflegedĂŒrftige Menschen werden kĂŒnftig seltener von Angehörigen gepflegt werden können. Zugleich nimmt ihre Zahl stetig zu. Und mit ihnen auch die Zahl demenziell erkrankter Menschen, deren Pflege fĂŒr Angehörige eine besondere Herausforderung bedeutet und die dauerhaft nicht immer im Familienkreis bewĂ€ltigt werden kann. Neue Wohn- und Betreuungsformen fĂŒr pflegebedĂŒrftige sowie speziell fĂŒr demenziell Erkrankte mĂŒssen erprobt und eingefĂŒhrt werden. Die ambulante Pflege, wie sie die Graf Recke Stiftung anbietet, wird in Zukunft noch mehr als bisher benötigt.
Viele Herausforderungen, die eine gute Sozialpolitik bewĂ€ltigen muss, bleiben gleich: die besondere UnterstĂŒtzung von Menschen am Rande der Gesellschaft etwa, von Benachteiligten, von Menschen mit Problemen. Andere Ă€ndern sich: auf die Folgen der demografischen Entwicklung mĂŒssen passende Antworten gefunden werden. Und wieder andere kommen ĂŒberraschend, wie die groĂe Zahl von FlĂŒchtlingen, die innerhalb kurzer Zeit bei uns Schutz suchen. Auf alle diese Herausforderungen antwortet eine gute Sozialpolitik, indem sie versucht, die ganze Gesellschaft mitzunehmen, indem sie allen die gleichen Chancen ermöglicht und Menschen je nach ihren besonderen BedĂŒrfnissen unterstĂŒtzt, manche brauchen eben mehrere Chancen, damit keiner am Rand der Gesellschaft bleibt, sondern alle in ihrer Mitte ihren Platz finden.
Ging es zu Zeiten des Grafs von der Recke-Volmerstein vor rund 200 Jahren um das Retten und Erziehen akut gefÀhrdeter Kinder und Jugendlicher aus seinem christlichen SelbstverstÀndnis heraus, so ist die Graf Recke Stiftung heute, mit dem gleichen christlichen SelbstverstÀndnis, aber mit modernen pÀdagogischen, pflegerischen und therapeutischen Konzepten dabei, Menschen vom Rande der Gesellschaft in ihre Mitte zu holen.
Die biblische goldene Regel, die sich auch die Graf Recke Stiftung auf die Fahnen bzw. auf die Lesezeichen geschrieben hat: âAlles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso.â (MatthĂ€us, 7.12) leitet die Arbeit der Mitarbeitenden. Ich habe bei meinem Rundgang erlebt, wie kompetent, engagiert, liebevoll und zugewandt die FachkrĂ€fte mit den Menschen, die ihnen anvertraut sind, umgegangen sind. Deshalb ein ganz groĂes Danke fĂŒr ihre tolle Arbeit in der Graf Recke Stiftung, die das Motto âHerzlich willkommen in der Mitte der Gesellschaftâ wahrlich verdient hat.