Berlin | Positionen

Vorsorge statt Nachsorge

Das neue SPD-Grundsatzprogramm, der Sozialstaat und die evangelische Kirche

von Kerstin Griese

Der programmatische Wandel der SPD von der Klassen- zur Volkspartei liegt lange zurück. 1946 sagte Kurt Schumacher bei der Neubegründung der SPD: „Mag der Geist des Kommunistischen Manifestes oder der Geist der Bergpredigt, mögen die Erkenntnisse rationalistischen oder sonst irgendwelchen philosophischen Denkens ihn bestimmt haben, oder mögen es Motive der Moral sein, für jeden ist Platz in unserer Partei.“ Damit ebnete der erste Nachkriegsvorsitzende der SPD den Weg für das Godesberger Programm von 1959. Dieses benannte erstmals das Christentum als eine der Wurzeln der deutschen Sozialdemokratie.

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte der SPD. Und das wird sich auch mit dem neuen Grundsatzprogramm nicht ändern, das im kommenden Jahr beschlossen wird. Die Grundwerte verpflichten uns, heute so zu leben, dass auch die kommenden Generationen die Chance haben, ihre Bedürfnisse angemessen zu verwirklichen. Wir wollen unseren Wohlstand nicht auf Kosten anderer Teile der Erde und der künftiger Generationen vermehren. Eine nachhaltige Entwicklung ist die Voraussetzung dafür, dass Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auch morgen gelebt werden können.

Diese Grundwerte haben ihre Wurzeln „im christlichen Menschenbild, im Humanismus, in der Aufklärung und in den Erfahrungen der Arbeiterbewegung“, heißt es in den von Kurt Beck und Matthias Platzeck vorgelegten „Leitsätzen auf dem Weg zum neuen Grundsatzprogramm“.

Das neue Programm diskutiert die SPD im Dialog mit Vielen in der Gesellschaft. Dazu gehören auch die Kirchen. Ein wichtiger Beitrag, der in die Diskussion eingeflossen ist, ist die Denkschrift der EKD zum Thema Armut. Allein ihr Titel hat es in sich. Er heißt nämlich nicht einfach „Nehmt den Reichen, gebt den Armen“ sondern „Gerechte Teilhabe“. Die evangelische Kirche nimmt damit – ganz ähnlich wie die Sozialdemokratie – eine durchgreifende Neuakzentuierung sozialer Gerechtigkeitspolitik vor.

Der SPD geht es darum, den Grundwert „Gerechtigkeit“ zu aktualisieren und zuzuspitzen, indem sie die Notwendigkeit der Teilhabegerechtigkeit betont, ohne sich von der klassischen Verteilungsgerechtigkeit abzuwenden. Denn die materielle Armut nimmt im Zuge der seit den Siebzigerjahren existierenden Massenarbeitslosigkeit stetig zu. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft in Deutschland immer weiter auseinander. Wenn wir also über materielle Armut reden, können wir das Thema „Reichtum“ nicht aussparen. Auch die christliche Ethik unterstreicht die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, wie sie unsere Verfassung festschreibt.

Wird Gerechtigkeit jedoch auf eine eng verstandene Verteilungsgerechtigkeit reduziert, entsteht die Gefahr eines Wohlfahrtspaternalismus, der durch bloße Finanztransfers lediglich die Abhängigkeiten verstärkt und nicht zu eigenverantwortlichem Handeln ermächtigt.

Die Armutsdenkschrift der EKD schreibt, es gehe nicht um eine Gesellschaft der Gleichheit im Sinne von Uniformität, sondern darum, dass alle auf ihre Weise Anteil an den in der Gesellschaft üblichen Möglichkeiten haben können. Dazu gehört, dass jeder in der Gesellschaft in jede Position vordringen kann. Das ist Gerechtigkeit im Sinne von Teilhabe- oder Beteiligungsgerechtigkeit. Niemand darf von den grundlegenden Möglichkeiten zum Leben ausgeschlossen werden, weder materiell noch im Blick auf die Chancen einer eigenständigen Lebensführung.

„Leistung muss sich wieder lohnen“ hatte Helmut Kohl in den Achtzigerjahren gesagt. Jetzt ist diese Parole wieder aufgetaucht – als Überschrift eines Aufsatzes des SPD-Vorsitzenden Kurt Beck. Ihm ging es um dieselbe Frage, die in der EKD-Denkschrift aufgeworfen wird: Können wirklich alle Menschen in jede Position in unserer Gesellschaft gelangen? Kommt es nur auf die individuelle Leistung jedes einzelnen an oder auf Herkunft, Stand und Klasse?

Unsere Gesellschaft ist – gerade im Vergleich zu den Siebzigerjahren – undurchlässiger geworden. Sozialer Aufstieg findet seltener statt. Gleichzeitig passen unsere überwiegend beitragsfinanzierten Sozialsysteme, die die Reparatur und die Nachsorge betonen, nicht mehr so recht in unsere heutige Zeit. Das auf Bismarck zurückgehende deutsche Sozialstaatsmodell gewährleistete dem männlichen Teil der Bevölkerung den notwendigen Schutz, als es noch garantierte Vollbeschäftigung, das Normalarbeitszeitverhältnis für alle und die lebenslange, ununterbrochene Erwerbsbiografie in ein und demselben Beruf gab. Doch das ist Geschichte. Längst stößt dieser Sozialstaat an seine Grenzen. Stärkung der Eigenverantwortung

Einst reichte es aus, dass er seine Funktion als soziales Netz erfüllte. Heute aber brauchen wir ein Sozialsystem, das den Menschen immer wieder Chancen gibt und denen hilft, die – aus verschiedenen Gründen – nicht arbeiten können. Wir brauchen einen vorsorgenden Sozialstaat. Diese Idee muss der zentrale Baustein für die Programmatik einer SPD der nächsten Jahrzehnte werden.

Vier Punkte sind es, die den vorsorgenden Sozialstaat kennzeichnen: Er setzt auf Chancengleichheit vom frühen Kindesalter an. Wer heute nicht dafür sorgt, dass alle Kinder ihre Begabungen entfalten können, trägt Verantwortung für die soziale Ungleichheit von morgen.

Der vorsorgende Sozialstaat stärkt die Fähigkeiten und die Eigenverantwortung des und der Einzelnen. Die Lebensläufe der Menschen werden unstetiger, und die Anforderungen der Wissensgesellschaft nehmen zu. Darum muss ein vorsorgender Sozialstaat Hilfen entlang des Lebenslaufs anbieten, damit Menschen mit dem Wandel Schritt halten können.

Dieser Sozialstaat ist auch eine Antwort auf die demografische Entwicklung. Wir wollen mehr Kinder in unserem Land und müssen alles dafür tun, dass junge Paare ihre Kinderwünsche realisieren können.

Und der vorsorgende Sozialstaat hat auch mit Ökonomie zu tun. Je besser die Menschen ausgebildet sind, desto besser sind ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt und desto höher ist der in der Gesellschaft zu verteilende Wohlstand.

Der vorsorgende Sozialstaat ist also etwas anderes als der versorgende oder rein fürsorgeorientierte Sozialstaat. Seine Qualität misst sich nicht an der Summe der materiellen Transferleistungen, sondern daran, wie sehr die Menschen dabei unterstützt werden, ihr Leben selbst verantwortet zu leben.

Das entscheidende Element einer vorausschauenden Sozialpolitik ist die Bildungspolitik. Daher muss das neue Grundsatzprogramm für die SPD zum Ausgangspunkt einer zweiten Bildungsreform werden. In den Siebzigerjahren weitete sich das Bildungssystem nach oben aus, der Bildungsaufbruch setzte in der zweiten Hälfte der Schullaufbahn an. So wurde der Zugang zur Hochschule geöffnet und die Herstellung von sozialer Mobilität zu einem Markenzeichen des Sozialstaates. Breite Schichten der Arbeiterklasse, denen die Bildungsmöglichkeiten zuvor verwehrt worden waren, erhielten erstmals die Chance zum sozialen Aufstieg.

Doch für den Teil der benachteiligten Schichten, der durch diese Bildungsreform nicht erreicht wurde, hat sich die Situation seit den Siebzigerjahren zusätzlich verschärft. Massenarbeitslosigkeit und vererbte Sozialhilfekarrieren gab es damals noch nicht. Und auch kulturell hat sich viel verändert: Das Privatfernsehen mit seinen unendlich vielen Kanälen und der steigende Fast-Food-Konsum sind die deutlichsten Ausdrücke dieses Wandels.

Heute müssen wir feststellen, dass in kaum einem entwickelten Land der Bildungserfolg so sehr von der sozialen und ethnischen Herkunft abhängt wie in Deutschland. Das widerspricht nicht nur unseren Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern ist auch eine enorme ökonomische Hypothek in einer zunehmend wissensintensiven Welt. Wir werden es uns angesichts der älter werdenden Gesellschaft nicht leisten können, auch nur ein Kind zurückzulassen.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Nicht die Bildungsreformen der Siebziger sind das Problem, sondern die Tatsache, dass sie stecken geblieben sind. Deswegen müssen wir daran anknüpfen: Wir brauchen eine wirklich grundlegende Bildungsexpansion von Anfang an, nämlich im Elementarbereich, beim vorschulischen Lernen. Bildung von Anfang an ist der entscheidende Punkt. Erziehung, Bildung und Betreuung sind nicht zu trennen. Kindertageseinrichtungen und Schulen haben sich diesen Aufgaben gemeinsam anzunehmen. Und beide müssen als Teil unseres Bildungssystems kostenfrei sein. Jedes Kind soll das Recht auf bedarfsgerechte Förder- und Betreuungsangebote bereits ab der Geburt erhalten, damit alle dieselben Startchancen haben. Deshalb brauchen wir einen Rechtsanspruch auf einen Platz in Krippe und Kita von Anfang an, den ganzen Tag, für alle Kinder. Gleichzeitig ist dies ein wichtiger Baustein für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Zum zweiten Bildungsaufbruch gehören auch Angebote für die Eltern, die als Experten in Sachen ihrer Kinder zu fördern sind. Flächendeckende Eltern-Kind-Zentren sollen Weiterbildungs-, Beratungs- und Hilfsangebote für Familien anbieten. Sie sind Teil einer stadtteilbezogenen Armutsprävention, die Bildungsprobleme, Erziehungsschwierigkeiten, Arbeitslosigkeit sowie gesundheitliche Probleme angeht.

Eine kinderfreundliche Gesellschaft zu schaffen, in der die Kinder wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückgeholt werden, ist eine zentrale Aufgabe. Denn das Fortschreiben der jetzigen Situation, in der Kinder in benachteiligten Stadtteilen aufwachsen, hat demokratiegefährdende Folgen, die sich in Werteverfall, Schulversagen, Rechtsextremismus und Kriminalität zeigen.

Kinder sind ein Zeichen von Zukunftshoffnung und damit im besten Sinne ein Zeichen von Gottvertrauen. Die ehemalige Familienministerin Renate Schmidt nannte unser Land „kindentwöhnt“. Und der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber wies darauf hin, dass „die Gefahr einer kindvergessenen Gesellschaft“ erst dann gebannt, sei, wenn es gelänge, „immer wieder mit Kindern zu leben, seien es die eigenen oder fremde, seien es Enkel oder Patenkinder“. Wer dagegen verlerne, mit Kindern zu leben, „versteigt sich in den Wahn, er lebe für sich allein“.

Das ist der Grund dafür, warum in einem SPD-Grundsatzprogramm Kinder eine wichtige Rolle spielen. Denn es geht dabei nicht um kurzfristige Tagespolitik. Vielmehr sollen Vorstellungen und Ideen für eine Zukunft entwickelt werden, die insbesondere für Kinder Chancen und Teilhabe ermöglicht – und die gleichzeitig für Innovation und Dynamik steht. Dabei ist es wichtig, dass die Menschen Halt und Orientierung nicht verlieren. Familie, Arbeitsplatz und die Orte der Zugehörigkeit, Städte, Gemeinden und Regionen, sind die zentralen Erfahrungsräume, die Menschen zusammenführen. Ihre Integrationskraft zu stärken, ist die Voraussetzung des sozialen Zusammenhalts. Für den Zusammenhalt brauchen wir die aktive, freiwillige und verantwortliche Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern. Aber gemeinschaftliches Handeln entsteht nicht von selbst. Menschen erlernen die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für sich und für andere in ihren Familien, am Arbeitsplatz, an ihren Wohnorten und in ihren Kirchengemeinden.

Fast alle Menschen streben nach Orten der Zugehörigkeit, Vertrautheit, Verlässlichkeit, nach Heimat. Ohne bürgerschaftliches Engagement, ohne demokratische Gemeinschaftserfahrungen und ohne eine intakte Lebenswelt gelingt es keiner Gesellschaft, die aus Vielfalt und Wandel entstehenden Konflikte solidarisch zu lösen. Bei der Organisation und Stärkung des Zusammenhalts kommt den Kirchen eine wichtige Rolle zu. Sie stehen für die Suche vieler Menschen nach Sinn und Zusammenhalt. Sicher, unsere Gesellschaft ist längst nicht mehr so deutlich von den christlichen Kirchen geprägt, wie dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Das schmälert aber ihre Bedeutung nicht. Eine erhebliche Herausforderung für die Kirchen und die Gesellschaft insgesamt ist der Dialog mit dem Islam. Wenn wir Integration und Toleranz auf allen Seiten ernst nehmen, brauchen wir die Entwicklung zu einem europäischen Islam, der sich – statt bloßer Anpassung oder Säkularisierung – den Werten der Aufklärung verpflichtet fühlt.

Der wurzellose Weltbürger bleibt eine lebensfremde Fiktion. Die Städte und Gemeinden sind die die wichtigsten sozialen Erfahrungsorte der Menschen. Sie bleiben die Orte, an denen das Leben seinen Ausgang nimmt und Orientierung finden kann.

aus dem zeitzeichen – Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 12/2006.

Zeitzeichen 12/2006

11.12.06

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