Bundestag | Reden

„Keine Jugendhilfe nach Kassenlage“

Kerstin Grieses Rede am 6.5.2004 in der Debatte über den CDU/CSU-Antrag zur Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In dieser Debatte geht es um eine gute Kinder- und Jugendpolitik, deren Zielsetzung ist, dass Kindern und Jugendlichen Chancen geboten und dass sie frühzeitig gefördert werden. Unser Ziel als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist es, Familien zu stärken und zu unterstützen, damit Kinder und Jugendliche gut aufwachsen können. Dafür haben wir eine öffentliche Verantwortung, der wir mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz nachkommen. Dabei handelt es sich um einen bewährten und wichtigen Baustein in der Kinder- und Jugendhilfepolitik. Ich freue mich, dass wir uns zumindest darüber einig sind, dass es sich dabei um einen Erfolg handelt.

Mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen Sie aber das Ziel einer guten Kinder- und Jugendpolitik nicht, Herr Scheuer.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie schaffen damit einzig und allein einen Verschiebebahnhof zulasten der betroffenen Kindern und Jugendlichen. Das begründen Sie mit den gestiegenen Kosten bei den kommunalen Leistungen, also mit rein fiskalischen Argumenten. Uns geht es aber darum, zu erkennen, wo wir qualitative und strukturelle Verbesserungen und Veränderungen vornehmen müssen und wo wir bewährte Strukturen erhalten können.

Lassen Sie mich etwas zu den Kostensteigerungen anführen; denn Sie, Frau Eichhorn, haben auch wieder von einer Kostenexplosion gesprochen. Mehr als die Hälfte der Kostensteigerungen in den vergangenen zehn Jahren ist auf den seinerzeit geschaffenen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zurückzuführen, den wir sicherlich alle befürworten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Nicht auf § 35 a bezogen!)

Die andere Hälfte der Kostensteigerungen ist auf den von uns Fachpolitikern gemeinsam gewollten Ausbau der familienunterstützenden Erziehungshilfen zurückzuführen. Das ist der Hintergrund und das sollte man bedenken, bevor man von einer Kostenexplosion spricht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche sowie für junge Volljährige, um die es hier hauptsächlich geht, sind zwei Herzstücke des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Das sieht auch die Fachwelt so. Herr Scheuer, bei der von Ihnen angesprochenen Anhörung war ich sowohl körperlich als auch geistig anwesend. Ich habe sie sogar geleitet und sehr genau zugehört. Nahezu alle Sachverständigen haben sich negativ zu dem Vorhaben der Union geäußert. Nur drei Ihrer Sachverständigen haben sich etwas positiver dazu geäußert.

(Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Sie haben die eingeladen, die durch Gutachtertätigkeit ihr Geld verdienen!)

Es liegen uns auch sehr viele Stellungnahmen vor. Ich möchte nur auf die schriftliche Stellungnahme des Deutschen Caritasverbandes verweisen, der der Meinung ist, dass Ihre Vorschläge sachlich und jugendpolitisch nicht vertretbar seien. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten wörtlich aus dieser Stellungnahme:

Die beabsichtigten Leistungseinschnitte würden insbesondere jene Kinder und Jugendliche treffen, die auf fachliche Hilfe und ein sozialpädagogisches bzw. jugendhilfespezifisches Setting für ihre positive Entwicklung angewiesen sind.

Auch der Deutsche Caritasverband hat Ihnen also seine Ablehnung Ihres Vorhabens deutlich gemacht.

In der Anhörung haben die Sachverständigen bestimmte Fragen gestellt, über die Sie noch einmal nachdenken sollten. Zum Beispiel wurde gefragt, was es den Kommunen eigentlich nutzt, wenn die Kosten vom Jugendamt auf das Sozialamt verlagert werden, oder was es ihnen eigentlich nutzt, wenn in einem Bereich Kosten eingespart werden, in dem – wenn Kinder und Jugendliche ohne Hilfe bleiben – dann noch weit kostenintensivere Maßnahmen von Staat und Gesellschaft notwendig werden. In der Anhörung hat zum Beispiel der Vertreter der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter deutlich gesagt, dass Ihr Gesetzentwurf nicht zielführend ist und dass er ihn deshalb nicht unterstützt. So viel zu Ihrem Argument, dass alle Jugendämter eigentlich für Ihren Vorschlag seien.

Mir ist es ganz wichtig, dass wir uns die in der Kinder- und Jugendhilfe vorhandene Qualität nicht von denjenigen beschädigen oder sogar zerstören lassen, die sich darauf verstehen, das System auszunutzen. Deshalb sind wir auch zu Änderungen bereit, die die Zielgenauigkeit verbessern und eine verstärkte Heranziehung der Eltern bei den Kosten ermöglichen. Bei stationärer Hilfe – auch das muss deutlich gesagt werden, weil hier so getan wird, als ob es das noch nicht gäbe – müssen die Eltern schon heute Kostenbeiträge in Höhe von bis zu 800 Euro im Monat zahlen. Wir wollen das entbürokratisieren und vermögende Eltern stärker fordern.

Ich warne vor dem Populismus einiger Boulevardzeitungen und auch davor, sich deren Argumentation zu Eigen zu machen. Es ist zwar richtig, dass es einzelne Fälle gegeben hat, in denen geschickte Eltern, die nicht zu den finanziell und sozial Schwachen gehören, das System ausgenutzt haben. Aber die übergroße Mehrheit derjenigen Kinder, die in den Maßnahmen sind, brauchen Hilfe. Es sind sogar eher die finanziell oder sozial schwachen Familien, deren Kinder eine bessere Unterstützung bräuchten und die oft nicht die juristischen Kniffe kennen, um an die entsprechenden Hilfen heranzukommen. Noch eine Bemerkung zu der Dokumentation des Bayerischen Landkreistages, in der 25 Fälle aufgeführt sind, in denen die Kinder- und Jugendhilfe angeblich unberechtigterweise gewährt worden ist. Wenn Sie sich die Fälle genau ansehen – das geht vor allen Dingen an die Adresse der bayerischen Kolleginnen und Kollegen –, dann stellen Sie fest, wo das eigentliche Problem liegt: Die Schule ist ihren Aufgaben nicht gerecht geworden. Das Jugendamt hätte sich um die Hälfte der Fälle gar nicht kümmern müssen, wenn die Schule die Fördermöglichkeiten wahrgenommen hätte. Insofern ist der Weg falsch, beim Kinder- und Jugendhilfegesetz anzusetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mir ist es wichtig, sachlich klarzustellen – ich bin dem Kollegen Haupt ausdrücklich dankbar, dass er das an Beispielen aufgezeigt hat –, dass es sich bei Ihren Vorschlägen nur um einen reinen Verschiebebahnhof handelt: von der Schule in die Jugendhilfe, dann in die Sozialhilfe oder in die Hilfen zur Erziehung, was wieder nur den Kinder- und Jugendhilfeetat beanspruchen würde. Mit einem reinen Verschiebebahnhof kommen wir nicht weiter. Wir brauchen kompetente Ansprechpartner. Bei der seelischen Behinderung von Kindern und Jugendlichen sind das die Jugendämter und nicht die Sozialämter. Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie die Nachhaltigkeit der Maßnahmen fordern. Im Ziel sind wir uns also völlig einig. Aber Nachhaltigkeit der Maßnahmen bedeutet auch, dass man dort ansetzen muss, wo die kompetenten Ansprechpartner sind. Am besten wäre es, die Probleme dort zu lösen, wo sie in den meisten Fällen auftauchen, nämlich in der Schule.

Unser Ziel ist, öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu übernehmen. Das steht auch so im 11. Kinder- und Jugendbericht. Wir sollten uns in dieser Debatte vor Augen führen, dass in der PISA-Studie unter anderem festgestellt worden ist, dass in Deutschland die Bildungschancen noch immer massiv von der sozialen Herkunft abhängig sind. Das zeigt aber auch: Unsere Politik, die dort ansetzt, wo es darum geht, die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, ist richtig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Motto der Ministerin „Auf den Anfang kommt es an“ ist richtig; denn gerade bei den Kleinen und den Kleinsten muss man für bessere Chancen und für mehr Förderung sorgen. Auch die Familien werden so gestärkt. Das hilft den Kindern und Jugendlichen in diesem Land eindeutig mehr als Kürzungen der Maßnahmen und irgendwelche Verschiebebahnhöfe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mit uns wird es keine Kinder- und Jugendhilfe nach Kassenlage, sondern nur eine qualitative und realitätsnahe Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts geben. Wir machen deutlich – das finde ich wichtig –, dass Staat und Gesellschaft Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen tragen,

(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Art. 6 Grundgesetz!)

und zwar gerade dann, wenn es sich um Kinder mit besonderen Problemen handelt, die zu Hause wenig gefördert werden. Diese Verantwortung sollten wir wahrnehmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

8.5.04

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