Bundestag | Reden

„Kinder und Jugendliche stark machen“

Kerstin Grieses Rede am 3.7.2002 in der Debatte „Gewalt und Gesellschaft“

Kerstin Griese (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als im April 1999 im amerikanischen Littleton zwei Schüler ein Blutbad angerichtet haben, haben wir alle fassungslos nach Amerika geschaut und uns gefragt: Ist so etwas auch bei uns möglich? Leider mussten wir diese Frage bejahen.
Deshalb treibt uns die Frage um: Was sind die Ursachen und Hintergründe von Gewalt? Ich finde es wichtig, darüber zu sprechen, und teile nicht die Einschätzung, die hier von Frau Merkel geäußert wurde: Wer nach den Ursachen fragt, würde rechtfertigen. Wir müssen schauen, wo Gewalt in der Gesellschaft ist. Unsere Debatte „Gewalt und Gesellschaft“ zeigt, dass Gewalt überall vorkommen kann, dass sie nicht auf „Gewalt von Jugendlichen“ verkürzt werden darf, dass Gewalt in den Familien, in den Schulen, auf der Straße, im Beruf, in den Medien vorkommen kann. Deshalb brauchen wir einen gesellschaftlichen Konsens. Es reicht nicht, allgemein Werte zu propagieren; man muss auch sagen, um welche Werte es eigentlich geht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Der gesellschaftliche Konsens muss heißen: Zusammenhalt fördern und Gewalt ächten. Das sind Werte, mit denen man auch inhaltlich arbeiten kann, die man als Ziel vertreten kann.
Schülerinnen und Schüler haben mir nach dem Amok lauf von Erfurt oft gesagt, dass eine ähnliche Tat auch an ihrer Schule passieren könnte. Diese Schonungslosigkeit, mit der Schülerinnen und Schüler gesagt haben: „Das könnte auch bei uns passieren“, macht deutlich, wie ernst wir das nehmen müssen und wie viel Ängste es in den Schulen gibt. Es macht auch deutlich, dass wir in unserer Verantwortung als Politiker nicht nur appellieren, sondern auch handeln müssen. Wir müssen Impulse geben, damit sich das gesellschaftliche Bewusstsein ändert. Ich will einige der Impulse, die wir zu geben versucht haben, nennen.
Das Wichtigste ist schon genannt worden, nämlich das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Ich halte es für einen ganz großen Fortschritt, dass endlich eindeutig klargestellt ist, dass Gewalt kein geeignetes Erziehungsmittel ist.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Kinder, die von ihren Eltern ohne Schläge und ohne Gewalt erzogen werden, werden besser in der Lage sein, anderen gegenüber tolerant zu sein und Konflikte gewaltfrei zu lösen.
Wir sind uns sicher: Kinder und Jugendliche brauchen Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten. Dort, wo sie benachteiligt sind, wo sie keine Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten haben, wo sie keine Perspektiven haben, können Frustration, Aggression und Perspektivlosigkeit entstehen. Aus ebendieser Perspektivlosigkeit kann – muss nicht – die Flucht in gewalttätiges Verhalten resultieren. Deshalb ist es uns so wichtig, den sozialen Schutz, die soziale Sicherheit und die Chancen von Kindern und Jugendlichen zu fördern.
Wir haben als Politiker die Verantwortung, günstige Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Sie wachsen natürlich zuallererst in der Verantwortung der Familie, aber eben auch – das hat der 11. Kinder- und Jugendbericht in den Mittelpunkt gestellt – in öffentlicher Verantwortung auf. Sozialer Schutz und Sicherheit für Kinder und Jugendliche sind Werte, die uns wichtig sind. Sie sind wichtig für die Zukunft unserer Gesellschaft und für ein Klima, in dem Gewalt keine Chance hat.
Wenn wir dort ansetzen wollen, wo Kinder und Jugendliche benachteiligt sind, dann müssen wir beispielsweise in den sozialen Brennpunkten ansetzen. Dort fehlen Ausbildungs- und Arbeitsplätze, Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten. Deshalb halte ich auch das Programm „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ – abgekürzt: E&C – für so wichtig. Es setzt an, um jungen Menschen aus benachteiligten Gebieten günstigere Bedingungen für ihre Zukunft zu schaffen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nur wenn es gelingt, Kindern und Jugendlichen dort vergleichbare Zukunftschancen wie denen in anderen Wohnvierteln zu garantieren, können Benachteiligungen aufgehoben werden, können Chancen eröffnet und Wege geebnet werden. Wir zeigen damit – das ist ganz wichtig –: Wir kümmern uns um euch, um Kinder und Jugendliche.
Die Förderung von benachteiligten Jugendlichen ist auch Ziel des Freiwilligen Sozialen Trainingsjahres. In diesem Trainingsjahr werden Jugendlichen soziale und berufliche Schlüsselqualifikationen vermittelt. Das ist auch ein Weg zur Integration. Die Erfahrungen sind sehr gut. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen war danach sozial besser integriert. Etwa ein Drittel hat einen Arbeitsplatz bekommen. Das hat langfristig und nachhaltig positive Auswirkungen gehabt. Wegen dieser Erfolge werden wir die Zahl der Plätze für das Freiwillige Soziale Trainingsjahr auf 2 000 verdoppeln.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ein ganz wichtiger Ansatz unserer Arbeit – das Programm „Gegen Gewalt und Rechtsextremismus“ war kein kurzes Strohfeuer, sondern ist langfristig angelegt – ist unser Programm „entimon – Gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus“. Damit werden Maßnahmen zur Stärkung von Demokratie und Toleranz sowie – das halte ich für ganz wichtig – zur Prävention und Bekämpfung von Rechtsextremismus und Gewalt gefördert. Dieser Name ist im Hinblick auf unsere Debatte ganz aussagekräftig. „Entimon“ ist Altgriechisch und bedeutet „Würde“ und „Respekt“. Genau darum geht es hier, um Würde und Respekt voreinander, Einfühlungsvermögen, eine Kultur des Miteinanders und die Ablehnung von Gewalt.
Dahinter verbergen sich ganz tolle Projekte, im Rahmen derer sich Schüler in ihren Stadtteilen engagieren, Theateraufführungen und Rollenspiele anbieten, ihren Stadtteil sicher machen für Menschen anderer Hautfarbe usw. Als Beispiel nenne ich das „Kino für Toleranz“. Deshalb ist es mir so wichtig, in dieser Debatte deutlich zu sagen, dass das Thema Gewalt nicht allein den Jugendlichen zugeschoben werden darf.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Die Ursachen liegen in der Mitte der Gesellschaft. Es gibt sehr viele Jugendliche, die sich gegen Gewalt engagieren. Dafür danke ich ihnen ausdrücklich.
Im Zusammenhang mit den schrecklichen Morden in Erfurt ist auch über Gewalt im Internet und in Computerspielen immer wieder – auch heute – gesprochen worden. Es ist sicher, dass gewalthaltige Computerspiele zu einer Desensibilisierung führen. Die Empathiefähigkeit von Kindern, aber auch von Erwachsenen, die diese Computerspiele spielen, sinkt. Man kann erkennen, dass das Anschauen von Gewaltszenen in den Medien eine große Rolle für die persönliche Konstitution und für die Gefühlslage spielt: Bei den Schülern, die einen „intensiven Horrorkonsum“ haben, ist eine erhöhte Aggressionstendenz und – das fand ich sehr interessant – eine größere Ängstlichkeit zu verzeichnen. Das zeigt, wie sehr Kinder und Jugendliche Schutz und Sicherheit brauchen.
Meiner Ansicht nach ist das Problem, dass die meisten Eltern oft gar nicht wissen, was ihre Kinder am Computer spielen. Eigentlich sollten sie doch mit ihnen spielen, mit ihnen fernsehen, mit ihnen mit Internet surfen, ihnen helfen, das Gesehene zu verarbeiten. Deshalb ist Medienkompetenz – besser: Medienmündigkeit – so wichtig. Da setzen wir an.
Mit dem neuen Jugendschutzgesetz, das die Alters kennzeichnungspflicht für Computerspiele vorsieht, haben wir einen wichtigen Schritt gemacht, um Eltern, Lehrern und Erziehern die Einschätzung zu erleichtern. Ich bin froh, dass der Bundesrat, nachdem sich die Unionsfraktion bei der Abstimmung hier enthalten hat, diesem Gesetz im Juni zugestimmt hat. Ich wünsche mir, dass wir noch viel stärker über Gewalt im Fernsehen diskutieren, um Wege zu finden, sie einzudämmen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Darstellung von Brutalität und Gewalt in allen denkbaren Medien darf nicht auf Kinder einwirken, als sei das eine Möglichkeit der Konfliktlösung. Gerade deshalb brauchen Kinder und Jugendliche in der modernen Mediengesellschaft feste Werte und Normen. Wir müssen das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Geborgenheit, nach sozialer Anerkennung aufgreifen. Die junge Generation erwartet aber ganz besonders gute Rahmenbedingungen für das Aufwachsen.
Unser Ziel ist es, Kinder und Jugendliche stark zu machen, damit sie selbstbewusst gegen Gewalt eintreten können, damit sie sich für gewaltfreie Konfliktlösungen entscheiden. Das ist ein wirksamer Schutz vor Gewalt in der Gesellschaft. Es geht um mehr Aufmerksamkeit, Verantwortung füreinander und friedlichen Umgang miteinander.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

3.7.02

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