Berlin | Positionen

Die Vision von sozialen Sozialstaat

Die Ideen der SPD zu Arbeit und Sozialstaat stammen aus einer Zeit, die abgelaufen ist. Doch jetzt ist der Rubikon überschritten: Die Sozialdemokratie kann die neue Wirklichkeit dieser Gesellschaft nicht länger ignorieren

von Kerstin Griese und Harald Schrapers

Nach der „Ruck-Rede“ des Kanzlers haben es nun auch der letzte Sozialdemokrat und die letzte Sozialdemokratin gemerkt: Es muss sich etwas ändern. Irgendwie. Und auf jeden Fall: eine ganze Menge. Denn der Sozialstaat ist an seine Grenzen gestoßen. Eigentlich ist diese Erkenntnis nicht ganz neu. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird darüber nun schon in unterschiedlicher Intensität diskutiert. Doch letztlich haben immer wieder jene die Oberhand behalten, die glaubten, es gebe ein zurück in die sechziger Jahre, als der Sozialstaat noch so trefflich funktionierte. Dass nun ausgerechnet eine Regierungserklärung eine programmatische Wende einleiten soll, beschämt die SPD. Denn eigentlich sollte eine „Programmpartei“, wie man sich in Abgrenzung zur Konkurrenz gerne nennt, einer Regierung voraus sein. Das Gegenteil ist der Fall.

Schon 1999 hatte der Berliner SPD-Parteitag beschlossen, die SPD bedürfe eines neuen Grundsatzprogramms und setzte dafür eine Programmkommission ein. Das war eine Fehlentscheidung. Denn die SPD war in keiner Weise bereit, sich in angemessener Weise mit der Veränderung der Welt und den daraus folgenden programmatischen Konsequenzen auseinander zu setzen. Ende 2001 legte die Programmkommission auf dem Nürnberger Parteitag einen Zwischenbericht vor, der die ganze Hilflosigkeit ihrer Arbeit deutlich machte. Die Programmdebatte sei „einschläfernd“ gewesen, überschrieb die Frankfurter Allgemeine ihren Bericht mit einem Zitat aus der kritischen Parteitagsstellungsnahme jüngerer Mitglieder der Kommission.

Besonders nichtssagend waren die Aussagen des Zwischenberichts zur Zukunft von Arbeit und Sozialstaat. Dass die SPD ein „sozialpolitisches Godesberg“ benötige, war dort noch nicht zu spüren. Stattdessen wurde trotzig triumphiert, dass sich die „Utopien vom Ende der Arbeit“ nicht bewahrheitet hätten: „Es kann keine Rede davon sein, dass das sozialdemokratische Ziel der Vollbeschäftigung überholt sei. Durch eine verstärkte und gewünschte Erwerbsbeteiligung von Frauen gewinnt es zusätzlich an Gewicht“, schrieb die Programmkommission – ohne zu erklären, wie das nun aussehen könne. Weltfremdes Wunschdenken oder Pfeifen im Walde?

Die „normale“ Erwerbsbiografie ist Geschichte

Schließlich basiert unser heutiges Sozialstaatsmodell immer noch auf den Prinzipien der klassischen industrialistischen Arbeitsgesellschaft, in der garantierte Vollbeschäftigung für den männlichen Teil der Bevölkerung, das Normalarbeitszeitverhältnis sowie die lebenslange, ununterbrochene Erwerbsbiografie im selben Beruf noch selbstverständlich waren. Das ist Geschichte. Einst reichte es aus, dass der Sozialstaat seine Funktion als „soziales Netz“ erfüllte. Heute dagegen, in einer komplett veränderten Welt, bräuchten wir weit mehr als ein soziales „Netz“ – nämlich ein „Trampolin“, das die Menschen zurück in die Erwerbsarbeit federt.
Leider wirkt der heutige Sozialstaat aber nur in Ausnahmefällen als „Trampolin“. Denn er wurde für die beiden sich entgegenstehenden Alternativen „Sozialleistung“ oder „Normalarbeitsverhältnis“ konzipiert. Heute aber ist der Sprung in ein Normalarbeitsverhältnis für viele Menschen viel zu groß geworden. Und ein allmählicher Einstieg in die Erwerbsarbeit ist unserem Sozialsystem wesensfremd. Wer eine Beschäftigung annimmt, verliert deshalb weitgehend seine Ansprüche auf Sozialleistungen: Die Menschen sind gefangen in der „Armutsfalle“.

Die Programmkommission wollte dies so nicht erkennen. Sie notierte, dass sie eine Kombination von „Sozialtransfers und Arbeitseinkommen“ erörtert habe. Heißen sollte das: Für eine solche Forderung gab es keine Mehrheit. Die Kommissionsmitglieder, die an ihrer traditionellen Idee des Sozialstaats festhalten wollten, hatten zumindest eine Sperrminorität. Zu ihr gehörte auch der Vertreter der Hamburger SPD, der nun als Generalsekretär versucht, die Programmdebatte aus der Scharping’schen Lethargie zu reißen. Die Programmkommission hat er de facto fürs erste suspendiert.

Irgendwie kann man sich in solchen Fragen anscheinend mehr auf die Regierung als auf die Partei verlassen. Gerhard Schröders Regierungserklärung deutete in einem kaum zur Kenntnis genommen Satz den Paradigmenwechsel an: „Wir werden damit Schluss machen, dass Langzeitarbeitslose, die einen Job annehmen, sämtliche Ansprüche auf Transferleistungen verlieren.“ Genau diese Veränderung wäre es, die dem sozialen Netz einen „Trampolineffekt“ verleihen würde. Programmatisch müsste die SPD diese Kombinierbarkeit von Sozial- und Erwerbseinkommen schon längst als Grundsatz verinnerlicht haben. Sowohl gering bezahlte Jobs als auch Teilzeitbeschäftigungen müssen attraktiver werden – denn selbst ein schlecht bezahlter Kontakt mit dem Arbeitsleben ist besser, als in dauernde Erwerbslosigkeit gezwungen zu werden.

Ganze Stadtviertel sind abgekoppelt

Aber was hier so logisch klingt, ist in der Sozialdemokratie mitnichten Allgemeingut. Stattdessen gibt es, auch in der Programmkommission, die weit verbreitete Illusion, dass mit besserer Ausbildung und Qualifizierung jeder eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben müsste. Nun hat gewiss niemand etwas gegen bessere Bildungsmöglichkeiten. Doch gleichzeitig können wir nicht ignorieren, dass in den Zeiten der Massenarbeitslosigkeit ganze subproletarische Stadtviertel entstanden sind, in denen Erwerbstätigkeit ein Fremdwort ist. Hier muss alles dafür getan werden, dass Menschen überhaupt wieder in Berührung mit der Arbeitswelt kommen. Auch wenn „Hartz“ womöglich gar keine neuen Jobs schafft: Sollten dadurch mehr Menschen in Arbeit vermittelt werden, egal wie kurzfristig diese Beschäftigung ist, wäre dies schon ein ganz wichtiger Erfolg. Und wenn zudem die neuen „Gleitzonenjobs“ mit ihren schrittweise ansteigenden Sozialbeiträgen einen neuen Bereich von Erwerbsarbeit schaffen oder legalisieren, wird auch hier ein neuer Einstieg in das Erwerbsleben eröffnet.

Der alte Arbeitsbegriff taugt nicht mehr

Erwerbstätigkeit spielt in unserer Gesellschaft immer noch eine entscheidende Rolle – aber eine völlig andere als noch in den Zeiten der klassischen Arbeitsgesellschaft. „Soziale Eigenständigkeit ist nicht länger Männerprivileg, sondern Menschenrecht“, schreibt der Publizist und Ex-Gewerkschaftsfunktionär Hans-Jürgen Arlt in der Frankfurter Rundschau. „Deshalb haben alle jungen Menschen inzwischen die selbstverständliche Erwartung und die meisten erwachsenen Frauen den zweifelsfreien Anspruch, einer bezahlten Arbeit nachzugehen.“ Doch dieses Recht treffe auf eine Ökonomie, deren Produktivkraft das Volumen an bezahlter Arbeit – „erfreulicher- und fatalerweise“ – immer weiter reduziere. „Ein zeitgemäßer Begriff der Vollbeschäftigung umfasst ein Minimum an unfreiwilliger Erwerbslosigkeit und ein Maximum an Möglichkeiten freiwilliger, wiederkehrender, sozial geregelter Nichterwerbstätigkeit“, antwortet Arlt auf die Regierungserklärung Gerhard Schröders.

Zu Recht. Denn trotz manch tiefgreifender Reformansätze in Schröders „Agenda 2010“: an eine Kritik am klassischen sozialdemokratischen Arbeitsbegriff traut sich auch der Parteivorsitzende nicht heran. Zu tief sitzen die Wurzeln der Sozialdemokratie, die der Marx-Schwiegersohn Paul Lafargue schon im vorletzten Jahrhundert als „geistige Verwirrung der rasenden Arbeitssucht“ anprangerte. Wenn der Begriff der „Vollbeschäftigung“ heute mehr sein soll als eine Worthülse, dann muss er mit völlig neuen Inhalten gefüllt werden und eine „emanzipatorische Orientierung“ bieten. Der ehemalige DGB-Sprecher Klaus-Jürgen Arlt beschreibt die Perspektive „eines selbstbestimmten Lebens, in dem Erwerbsarbeit, Fami- lienleben, Fürsorge, Bildung, Muße und gesellschaftliches Engagement von Männern und Frauen integriert und gleichwertig verwirklicht werden können“. Dies eröffne die Aussicht auf eine „gerechtere Gesellschaft, in der sich die Pluralität der Arbeit gegen die Diktatur der Erwerbstätigkeit durchgesetzt hat“. Arlt fordert deshalb, dass das Sozialsystem nicht „das Arbeitsverhältnis als Angelpunkt haben“ dürfe, sondern den Bürgerstatus. Deshalb ist die Schlussfolgerung auch hier die Forderung nach Steuerfinanzierung und Einbeziehung aller Arten von Einkünften.

Solidarische Sozialsysteme? Schön wäre es!

Viele traditionalistische Verteidiger des klassischen Sozialstaats vergessen, dass unsere Sozialsysteme kaum noch als solidarisch zu bezeichnen sind. Gerade für die Starken in unserer Gesellschaft bieten Beitragsbemessungsgrenzen und private Krankenversicherungen Möglichkeiten, sich in unsolidarischer Weise auszuklinken. Ebenso bleiben Beamte und Abgeordnete, Freiberufler, Selbstständige sowie die Bezieher von Kapital- und Mieteinkünften außen vor. Dagegen wird Solidarität vor allem von denen verlangt, die von einem einfachen Erwerbseinkommen leben.

Wir brauchen eine steuerfinanzierte Grundsicherung als Basis unseres Sozialsystems. Wer, ob freiwillig oder nicht, zeitweise nicht erwerbstätig ist, braucht eine verlässliche Grundlage für seine soziale Sicherung. Und vor allem: Er benötigt eine lohnende Perspektive, um wieder in die Erwerbstätigkeit einzusteigen. „Cappuccino-Modell“ hatten wir dies mal in Anlehnung an die Niederlande genannt: Kaffee als steuerfinanzierte Basissicherung, die aufgeschäumte Milch zur beitragsfinanzierten anteiligen Sicherung des erreichten Lebensstandards plus Kakaopulver als Leistung aus der privaten Vorsorge. Das heißt, jeder Cent, den ich über Sozialabgaben für das soziale System zahle, muss später meinem eigenen Lebensstandard zugute kommen. Denn die Aussicht auf Rentenzahlungen, die unterhalb eines Sozialhilfeniveaus liegen, sind genauso beschäftigungshemmend und ungerecht, wie eine Steuerklasse V, die besonders Frauen ungeheuer hohe Steuerabzüge auferlegt. Mit der Schaffung der Grundsicherung für alte Menschen ist es Rot-Grün gelungen, einen ersten wichtigen Schritt zu unternehmen, um den Einstieg in eine neue Sozialstaatsphilosophie zu finden.

Die Entzauberung einer Generation

Nachhaltigkeit und Rücksichtnahme auf die kommenden Generationen waren ein herausragendes Merkmal der Finanzpolitik der ersten rot-grünen Regierung. Endlich wurde Abschied genommen von der Politik des hemmungslosen Schuldenmachens. Doch beim nächsten konjunkturellen Abschwung, der nach dem 11. September 2001 in unerwarteter Heftigkeit hereinbrach, war die Finanzpolitik der Generation Schröder/Eichel entzaubert.

Es war recht einfach, in Zeiten des Wachstums finanzielle Solidität einzufordern, Steuersenkungen vorzunehmen und die Ausgaben für die Familien drastisch zu erhöhen. Nachdem dieses Füllhorn ausgeschüttet war, sollten nach dem Wahltag Steuervergünstigungen und Subventionen bis hin zum Ehegattensplitting eingesammelt werden. Es ist letztlich egal, ob und in welchem Umfang dies bereits im SPD-Wahlprogramm angekündigt war. Es mag auch durchaus sinnvoll sein, jedes dieser Steuerprivilegien in Frage zu stellen. Auf jeden Fall war es ein dreifacher Fehler:

Erstens hat sich die Koalition monatelang an diesem Thema verkämpft, obwohl sie angesichts der Bundesratsmehrheit keine realisierbare Erfolgschance hatte.

Zweitens ist es reichlich kurzsichtig, Steuern zu senken sowie das Kindergeld zu erhöhen, aber nicht gleichzeitig, sondern erst in der nächsten Legislaturperiode Steuervergünstigungen zu streichen oder zu kappen. Genauso wenig sinnvoll ist es, wenn die gleiche Partei die Senkung des Spitzensteuersatzes und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer in beliebiger Reihenfolge beklatscht.

Drittens erkennt schon der wirtschaftspolitische Laie, dass es kontraproduktiv ist, in Zeiten des Aufschwungs mit Steuererleichterungen zu winken und in Zeiten der Stagnation beziehungsweise des Abschwungs wieder mehr Steuern einnehmen zu wollen. Jetzt wird die Kreditaufnahme notgedrungen wieder erhöht, was nichts anderes heißt, als dass die nächsten Generationen den Weg aus der Krise bezahlen sollen. Und es wurden die Rentenbeiträge erhöht. Vieles, was Rot-Grün bislang unter dem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ zustande gebracht hatte, wurde dadurch konterkariert.

Dieser Sozialstaat vernichtet Arbeitsplätze

Es zeigt sich also erneut: Ein wesentlicher Konstruktionsmangel des deutschen Sozialstaats ist die Tatsache, dass er sich weitgehend über den Faktor Arbeit finanziert. Dadurch werden Arbeitsplätze vernichtet. Betriebe, die Arbeitsplätze abbauen, bekommen vom Staat einen Extrabonus: die Entlastung von den hohen Lohnnebenkosten – gleichsam als Sonderprämie für Rationalisierungen.

Es war ein Versäumnis der vergangenen vier Jahre, dass wir uns mehr um Steuersenkungen gekümmert haben, als um eine Senkung der Lohnnebenkosten. Während die Steuerlast in Deutschland im internationalen Vergleich niedrig ist, ist die an den Faktor Arbeit gebundene Abgabenlast viel zu hoch. Die Entlastung des Faktors Arbeit durch die Ökosteuer war ein sehr notwendiger Schritt, dessen konsequente Fortsetzung wegen des hohen Symbolcharakters des Benzinpreises indes nicht mehr möglich schien.

Zwar gelten indirekte Steuern auf den ersten Blick als ungerecht. Wenn diese aber für Sozialleistungen verwendet werden, hebt sich dieser Effekt auf. Deshalb finden wir in den skandinavischen Ländern mit ihren enorm hohen Verbrauchssteuern eine sozial gerechtere Gesellschaft mit deutlich weniger Arbeitslosigkeit. Ein zusätzlicher Mehrwertsteuersatz für Luxusgüter wäre ein Symbol für mehr Gerechtigkeit, während niedrigere Sätze für Dienstleistungen Arbeitsplätze schaffen oder legalisieren würden.

Kinder als Privileg der Unterschichten?

Die Schaffung von Generationengerechtigkeit ist eine der wesentlichen Aufgaben sozialdemokratischer Politik. Sie lässt sich nur noch durch einen konsequenten Wandel unseres Sozialsystems gewährleisten. Umso ärgerlicher ist es, dass – von Angela Merkel aufgegriffene – Vorschläge des Wirtschaftswissenschaft-lers Hans-Werner Sinn eine aufgeregte Debatte angestoßen haben, die vom eigentlichen Thema ablenkt. Sinn und Merkel kamen auf die Idee, Kinderlosen die Rente zu kürzen. Damit lässt sich vorzüglich davon ablenken, dass eine konsequente Reform unseres Rentensystems völlig unabhängig davon nötig ist, ob unsere Geburtenrate ein Zehntel Prozent steigt oder sinkt. Alarmierend ist jedoch, dass wir in der Geburtenrate EU-weit auf den vorletzten Platz abgerutscht sind. Ganz offensichtlich haben die Menschen das Gefühl, sie lebten in einer kinderunfreundlichen Gesellschaft. Und solch einer Gesellschaft fehlt ein gutes Stück Zukunftsfähigkeit.

Der Grund dafür, dass Deutschland als eher kinderfeindliches Land gilt, liegt auf der Hand. Nirgends sonst weigert sich eine Gesellschaft so konsequent, ihren Anteil an der Erziehung und Betreuung der Kinder zu übernehmen. Mit einem Milliardenprogramm will die Koalition dies nun ändern. Der Ausbau von Ganztagsbetreuungs- und Bildungseinrichtungen wird in der Zukunft vielleicht die entscheidende gesellschaftliche Veränderung sein, die Rot-Grün eingeleitet hat. Denn es geht nicht darum, finanzielle Anreize zu schaffen, damit die Menschen Kinder kriegen. Entscheidend ist, dass die Gesellschaft eine Infrastruktur bereitstellt, die es sowohl Müttern als auch Vätern ermöglicht, ihre Vorstellung von Familie, Beruf und Karriere zu realisieren. Sonst werden Kinder zu einem Privileg der sozial benachteiligten Unterschichten, die kaum etwas zu verlieren haben, oder der Oberschicht, die sich Dienstleistungen selbst einkaufen kann.

Der Umbau wird umfassend sein

Die Revision der sozialdemokratischen Sozialstaats-Programmatik wird nicht einfach. Denn bislang ist nur bekannt, welche „alten Zähne“ gezogen werden müssen. Und das tut verdammt weh, denn bei jedem dieser „Zähne“ handelt es sich durchaus um eine soziale Errungenschaft.

Was hingegen fehlt, ist eine positive Perspektive, eine Vision. Und die zu entdecken und zu diskutieren fällt um so schwerer, je mehr die Auseinandersetzung zwischen den zwei alten SPD-Flügeln alle Kräfte bindet. Auf der einen Seite, so Johano Strasser, steht der „phantasielose Traditionalismus, der davon ausgeht, dass Konzepte, die in den sechziger oder siebziger Jahren gut funktioniert haben, immer noch praktikabel seien. Auf der anderen Seite haben wir es in Teilen der SPD mit einem prinzipienlosen Erneuerungseifer zu tun, der, ohne groß zu überlegen, alles aufgreift, was gerade en vogue ist.“ Wie Jan Ross in der Zeit schrieb, sind diese Modernisierer von der Last befreit, eine eigene Position beziehen zu müssen: Schon zu oft auf die falschen Pferde gesetzt zu haben – das sei das Gefühl einer ganzen politischen Klasse. Gerade deshalb aber wirke es wie eine Erlösung, wenn ein ehemaliger Juso-Bundesvorsitzender entdecke, dass es keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik gebe: „Der Modernisierungsglaube verspricht Sicherheit; wie im Marxismus darf man sich als williger Vollstrecker historischer Gesetze fühlen, nur ohne die Fährnisse des Klassenkampfes und ohne das Risiko, dabei auf die Nase zu fallen.“

Doch es hilft nichts: Für die Sozialdemokratie müssen die eigenen Grundwerte die entscheidenden Maßstäbe sein. Auch wenn es innerhalb der SPD einzelne Forderungen gibt, diese Grundwerte einer Revision zu unterziehen: Gleiche Chancen für alle, Hilfe für die Schwächeren, soziale Gerechtigkeit und Aktivierung der Menschen zur größtmöglichen Selbständigkeit müssen die Ziele unseres Umbaus des Sozialstaates sein.

In der veränderten Welt mit ihren zunehmenden Unsicherheiten brauchen wir nicht weniger Sozialstaat, sondern eher mehr. Nur muss dieser Sozialstaat „auf jeden Fall ein völlig anderer und weitaus intelligenterer“ sein, wie Tobias Dürr jüngst in dieser Zeitschrift geschrieben hat. Die SPD muss endlich beginnen, darüber nachzudenken. Nur dann wird sie auch beantworten können, wie die kurzfristigen Schritte aussehen sollten, mit denen sie die notwendigen Reformen einleiten will. „Denn wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen“, hat Willy Brandt im legendären Wahlkampf von 1972 gesagt. Das gilt noch immer. Und heute erst recht.

aus: Berliner Republik 3/2003, S. 42-47.

1.7.2003

Home