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Wie viele Kinder braucht das Land?
Ohne Kinder keine Rente, meinen viele. Doch auch eine höhere Geburtenrate würde unser herkömmliches Sozialmodell nicht mehr retten. Trotzdem hängt viel davon ab, dass das Leben mit Kindern in Deutschland möglich bleibt
Von Kerstin Griese und Harald Schrapers
Niemand muss Kinder kriegen. Es ist absolut freiwillig. Und das ist eine Errungenschaft unserer heutigen Gesellschaft. Frauen sehen im Kinderkriegen nicht mehr den Sinn ihres Lebens. Sie erfahren ihre gesellschaftliche Anerkennung längst dort, wo auch Männer ihre Selbstbestätigung erhalten – zumeist in der Erwerbsarbeit. Dennoch geht es bei der aktuellen Diskussion über die Ausrichtung der zukünftigen sozialdemokratischen Familienpolitik und über die Perspektiven für Kinder in unserem Land um das Rollenverständnis von Frauen und Männern, um gesellschaftliche und damit auch finanzielle Prioritäten.
Brauchen wir mehr Kinder für die Rente? Nein, denn die Geburtenzahlen sind so drastisch gesunken, dass wir unser herkömmliches Sozialstaatsmodell in der jetzigen Form sowieso nicht mehr lange aufrecht erhalten können. Daran ändert auch die Erhöhung der Geburtenrate um ein oder zwei Zehntelprozent nichts. Bestenfalls würde das den Reformbedarf noch für ein paar Jahre kaschieren. Wir brauchen deshalb eine konsequente Fortsetzung der Reform der Alterssicherung, so wie sie die rot-grüne Regierung begonnen hat. Zugleich aber benötigen wir auch Kinder, wenn wir eine innovative und nachhaltige Gesellschaft sein möchten. Nicht jeder braucht individuell ein Kind, das wäre eine völlig falsch verstandene Privatisierung des Problems. Kinder sollten jedoch in allen Teilen der Gesellschaft präsent und integriert sein. Wir brauchen keine bloß deklamatorische Kinderfreundlichkeit, die sich im Bau von Spielplätzen in Yuppie-Wohnquartieren äußert, sondern Kinder, die diese Plätze beleben.
Gibt es bei uns zu viele oder zu wenige Kinder? Schwer zu sagen. Betrachtet man jedenfalls aktuelle Sachbuch-Bestseller wie Susanne Gaschkes Erziehungskatastrophe oder den Erziehungsnotstand von Petra Gerster und Christian Nürnberger, so scheint es eher zu viele Kinder zu geben. Zumindest aber sind diese offensichtlich in den falschen Händen, denn sie werden von Eltern erzogen, die diese Aufgabe nicht beherrschen. Allerdings könnte es umgekehrt auch richtig sein, dass es zu wenige Kinder gibt. Die Probleme resultieren daraus, dass Familien an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden, dass sie vereinsamen, dass sie zu einem sozialen Ausnahmephänomen werden. Tatsache ist, dass die Verteilung von Kindern in der Gesellschaft extrem ungleich ist. Akademikerinnen sind doppelt so häufig kinderlos wie Frauen mit Hauptschulabschluss. Und diese Schere wird sich, wenn der Trend nicht zu stoppen ist, weiter öffnen.
Sollen sich Gesellschaft und Politik überhaupt darum kümmern, dass mehr Kinder geboren werden? Ein Mutterkreuz oder Gebärprämien will – zumindest außerhalb Bayerns – kaum jemand. Immer mehr Kinder sind von Sozialhilfe abhängig, in den sozialen Brennpunkten gibt es offensichtlich nicht zu wenige von ihnen. Warum dann mehr Kinder? Weil auch den Kindern in sozial benachteiligten Verhältnissen nicht geholfen ist, wenn Kinderreichtum zu einem Phänomen sozialer Randgruppen wird. Statt dessen müssen Kinder auch und gerade in der Mitte der Gesellschaft leben. Denn die relativ wenigen Kinder, die dort geboren werden, verlassen diese Mitte – zumindest räumlich: Sie ziehen in die Reihenhaus- und Eigenheimsiedlungen am Rande und außerhalb der Städte. Die geografische Siedlungsstruktur der Städte verbildlicht, was der Gesellschaft insgesamt droht: Kinderreichtum in den großen ehemaligen Arbeitervierteln, die Kinder der Wohlhabenden in den kleinen Eigenheimsiedlungen am anderen Ende der Stadt. Und in der Mitte von Stadt und Gesellschaft werden Kinder zu exotischen Ausnahmen. So verliert die Gesellschaft ein Stück ihrer Zukunftsfähigkeit.
Muss der Staat mehr Geld für Familien mit Kindern bezahlen? Mit mehr Geld werden auf Dauer auch nicht mehr Kinder geboren. Das zeigt ein Vergleich zwischen den europäischen Staaten: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Geburtenrate und der Höhe der Transferleistungen. Trotzdem sind verbesserte Transfers für Familien ein Gebot der Gerechtigkeit. Deshalb hat Rot-grün das Kindergeld inzwischen um insgesamt knapp 500 Euro jährlich erhöht, ein dringend nötiger Schritt. Die familienfeindliche Politik der Kohl-Regierung hat das Bundesverfassungsgericht heftig gerügt. Große Teile der familienrelevanten Finanzgesetzgebung aus den 13 Jahren der Koalition von Union und FDP haben die Hürde der Verfassungsmäßigkeit nicht geschafft. Allerdings muss der Wechsel von der Politik entschieden werden, nicht durch ein Gericht. Denn längst maßt sich das Verfassungsgericht familienpolitische Detailentscheidungen an und lässt dabei sein recht traditionelles Verständnis von Ehe und Familie durchblicken.
Die steuerliche Subventionierung der Ehe passt nicht mehr in die Zeit. Die
Lebensumstände sind vielfältiger und unberechenbarer geworden. Ehen
gehen desto häufiger auseinander, je höher das Bildungsniveau der
Beteiligten ist. Ehen sind eben keine Abhängigkeitsverhältnisse mehr.
Es geht um Liebe. Umso mehr stellt sich die Frage – zumal das Prinzip
inzwischen auch auf gleichgeschlechtliche Paare ausgedehnt wurde – was
eigentlich der Staat mit solch höchst privaten Dingen zu tun hat.
Der Extremfall des Ehegattensplittings – alleinverdienender Mann, nicht
erwerbstätige Frau, keine Kinder – ist in den jüngeren und
mittleren Generationen zwar äußerst selten geworden. Trotzdem werden
Ehepaare ohne Kinder steuerlich besser gestellt als Alleinerziehende oder Verwitwete.
Auch Eltern ohne Trauschein und Geschiedene werden steuerlich benachteiligt – und
beide dürfen sich nach dem reformierten Kindschaftsrecht von 1998 ja tatsächlich
als vollwertige und gleichberechtigte Eltern fühlen. Durch den vom Bundesverfassungsgericht
verlangten Wegfall der Steuerklasse 2 werden sie künftig mit Singles gleichgestellt.
Der Ehe scheint ein größerer Wert zugemessen zu werden als der im
gleichen Grundgesetzartikel verankerten Familie.
Das Ehegattensplitting muss in seiner heutigen Form abgeschafft werden. Auch wenn dies nur schrittweise möglich ist und die finanziellen Entlastungen der staatlichen Haushalte geringer als erhofft ausfallen – bereits das Signal wäre wichtig.
Kinder sind ein Armutsrisiko. Die These ist unbestritten,
jede einschlägige
Statistik beweist sie. Armut ist ein Kinderrisiko – dieser Satz hört
sich ein wenig schief an. Doch Arme bekommen häufiger Kinder, das ist
eine Tatsache. Die Mütter sind viel jünger, weil in den betroffenen
sozialen Milieus oft ein traditionelles Frauen- und Familienbild herrscht und
nur geringe Aufstiegschancen für Frauen im Beruf bestehen. In sozial
schwachen Familien stellen die sozialen Transferleistungen, die aufgrund der
Kinderzahl gezahlt werden, oftmals einen erheblichen Anteil am Familieneinkommen
dar. Wenn höhere Sozialleistungen für Kinder eine Auswirkung auf
die Geburtenrate haben könnten, dann höchstens in den sozial schwachen
Schichten.
Viel zu viele Kinder wachsen in Armut auf. Heute wachsen manche Kinder schon
in der dritten Generation als Sozialhilfeempfänger heran, andere kennen
in ihrem Stadtviertel überhaupt niemanden mehr, der einer geregelten Erwerbstätigkeit
nachgeht. Selbst wenn man versuchen würde, diese Lage durch zusätzliche
staatliche Gelder – etwa mit der Einführung einer Kinder-Grundsicherung – zu
verbessern: Wer weiß schon, ob das Geld tatsächlich bei den Kindern
landet? Susanne Gaschke jedenfalls spricht mit drastischen Worten von der „um
sich greifenden Verwahrlosung in einem Teil des subproletarischen Milieus“.
Früher war alles besser. Tatsächlich? Die Achtundsechziger
trügen
die Verantwortung für die heutige Erziehungsmisere, wird gesagt. Doch
das ist eine Verklärung der Erziehungsmethoden der Vergangenheit. Sowohl
Susanne Gaschke als auch Petra Gerster und Christian Nürnberger strebten
in ihren Büchern zurück zur „Moralität des Struwwelpeters,
bei dem bekanntlich ungekämmte Haare, Daumenlutschen, Kippeln und Mäkeln
bei Tisch zu den sieben Todsünden rechneten“, schreibt Barbara Sichtermann
in der Zeit. „Die ,starken Eltern‘ die Susanne Gaschke
vermisst, waren ja früher (vor 68) nur deshalb stark, weil sie die Gewalt
auf ihrer Seite hatten.“
Ein nüchterner Rückblick hingegen erklärt, warum die Erziehungs-
und Bildungsleistungen – tatsächlich oder vermeintlich – so
dramatisch nachgelassen haben. Unsere Generation, diejenige der etwa 30- bis
40-Jährigen, ist in Zeiten von De-facto-Vollbeschäftigung und massiver
Bildungsexpansion aufgewachsen. Viele Kinder haben, gefördert von ihren
Eltern, als allererste in ihrer Familie einen höheren Bildungsabschluss
erreicht. Den Eltern waren solche Abschlüsse durch soziale Schranken noch
verwehrt gewesen, besonders den Müttern, die ihren gesellschaftlichen
Aufstieg noch durch Heirat erreichen mussten. Längst aber ist die gesellschaftliche
Dynamik vergleichsweise zum Erliegen gekommen. Die Kinder der sozial aufgestiegenen
Arbeiterkinder sind keine Arbeiterkinder mehr. Und Frauen brauchen heute keine
„Aufstiegsheiraten“ mehr,
denn sie haben inzwischen ein besseres Schulbildungsniveau als die Männer.
Familie ist jungen Menschen wichtig. Jedoch gibt es eine erhebliche Diskrepanz
zwischen dem von jungen Erwachsenen geäußerten und dem später
tatsächlich realisierten Kinderwunsch. Dies ist der Hebel, an dem Politik
und Gesellschaft anzusetzen haben. Niemand soll überredet werden, Kinder
zu kriegen. Stattdessen müssen Hürden beseitigt werden, die Leuten
glauben lassen, ein Leben mit Kindern sei für sie letztlich doch nicht
realisierbar.
Der Vergleich Deutschlands mit den europäischen Nachbarn zeigt: Wo die
weibliche Erwerbsquote hoch ist, ist auch die Geburtenrate hoch. Elternschaft
und Erwerbstätigkeit müssen also miteinander vereinbar sein. Und
gerade das ist in Deutschland außerordentlich schwierig.
Kinderbetreuung muss verlässlich sein. Und zwar langfristig.
Im Osten des Landes gibt es zu wenig Erwerbsarbeit, dafür aber ganztägige
Kinderbetreuungsangebote. Im Westen gibt es Kinderbetreuungseinrichtungen für
Unter-Dreijährige dagegen nur selten, Ganztagseinrichtungen sind die Ausnahme.
Und keiner weiß, was passiert, wenn das heute dreijährige Kind mit
sechs Jahren in die Schule kommt. Mit Glück garantiert die „verlässliche“
Schule eine Betreuung bis 13 Uhr, oder es wird einer der raren Hortplätze
aufgetrieben. Eine berechenbare Lebensplanung ermöglicht das nicht.
Die Anwesenheit eines Elternteils daheim sei ein objektiver Vorteil gegenüber
einer institutionellen Betreuung, schreibt Susanne Gaschke in ihrer Erziehungskatastrophe. Natürlich
ist die institutionelle Betreuung eines Zweijährigen rund
um die Uhr oder von acht bis acht wenig sinnvoll. Aber wäre nicht eine
Kombination aus hervorragender Einzelbetreuung und qualitativ guter Gruppenbetreuung – letzteres
darf mit zunehmenden Alter einen immer größeren Anteil annehmen – der
richtige Weg? Denn primär kommt es auf die Qualität an – und
darüber braucht man gar keine ideologischen Debatten zu führen. Die
Behauptung, Einzelerziehung durch die Mutter sei grundsätzlich besser
als Gruppenerziehung, ist jedenfalls nachweislich falsch. Es sei denn, wir
behaupteten, den Kindern in der großen Mehrheit unserer EU-Nachbarländer
gehe es schlechter als den deutschen. Anderswo werden selbstverständlich
auch Unter-Dreijährige in Kindergärten betreut. Und den Begriff der
„Rabenmutter“ gibt
es in vielen anderen Sprachen überhaupt nicht.
Es geht um wirkliche Gleichstellung. Viele Mütter, die berufliche Qualifikationen
erworben haben, finden unter den heutigen Bedingungen nur eine Nebentätigkeit.
Von einer wirklich ihren Qualifikationen entsprechenden Erwerbstätigkeit
sind sie weit entfernt. Und an beruflichen Aufstieg, an Karriere ist viel zu
oft nicht zu denken. Es geht längst nicht mehr nur um die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie und darum, dass durch eigene Erwerbstätigkeit Armut
verhindert wird. Sondern es geht darum, dass Familie und beruflicher Aufstieg
miteinander vereinbar sein müssen. Dass das nicht der Fall ist, ist der
entscheidende Grund dafür, dass qualifizierte Frauen ihren Wunsch nicht
verwirklichen, Kinder zu bekommen.
Als es der New Economy noch besser ging, huldigten viele dem Bild der unglaublich
flexiblen Beschäftigten, die sich hochmotiviert mit dem Betrieb identifizierten
von morgens früh bis abends spät und auch am Wochenende lustvoll
zu Werke gingen. Und mancher Prophet der Wissens- und Informationsgesellschaft
in Politik oder Wirtschaft sieht darin ein wünschenswertes Szenario für
die Zukunft. Doch wer das will, der will eine Gesellschaft ohne Kinder.
Eine kinderfreundliche Gesellschaft muss den Wert der Erwerbsarbeit neu definieren.
Der Wertewandel der letzten Jahrzehnte muss sich fortsetzen. Wir brauchen eine
bessere Verteilung der vorhandenen Erwerbsarbeit. Der Sozialstaat muss entsprechend
umgebaut werden und darf nicht mehr primär auf den Faktor Arbeit beruhen.
Nur dann können Kind und Familie einen wirklich attraktiven Wert auch
für die Männer einnehmen, die sich heute noch weitestgehend aus der
Familienarbeit heraushalten. Ohne die Männer wird es hier keinen Fortschritt
geben.
Frauen erwirtschaften heute bereits ein Drittel des Familieneinkommens. „Die
Vermischung weiblicher und männlicher Lebensrollen in einer tendenziell
androgynen Gesellschaft ist vermutlich eine der wesentlichen Voraussetzungen,
um in Zukunft Arbeit, Familie und Bindungen miteinander vereinbaren zu können“,
schreibt der Soziologe Hans Bertram in dem Buch Geschichte und Zukunft der
Arbeit.
Der Staat muss sich darauf konzentrieren, die Infrastruktur für Kinder
zu finanzieren, besonders das Bildungssystem. Ein Bestandteil des Bildungssystems
muss die öffentliche Betreuungsinfrastruktur für Kleinkinder werden.
Denn die sozialen Barrieren in unserem Bildungssystem sind zu einem erheblichen
Teil eine Folge der fehlenden vorschulischen Förderung.
Investitionen in ein erweitertes Bildungs- und Betreuungssystem sind unzweifelhaft
eine gesellschaftliche Aufgabe. Zudem ist die Akzeptanz dafür auch bei
Kinderlosen höher – welcher Single meint schon, zu wenig Steuern
zahlen zu müssen? Unsere These lautet: Die Ausweitung der staatlichen
Förderung von Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur ist wichtiger als
die weitere Erhöhung direkter finanzieller Transfers an die Familien.
Denn mit Betreuungsplätzen kann man einen erheblichen Beitrag zu einem
gerechten finanziellen Familienlastenausgleich und zur sozialen Integration
leisten. Die Kosten eines Kindes entstehen nicht in erster Linie durch Windeln,
Kinderkleidung und Babynahrung – wobei man übrigens durch einen
reduzierten Mehrwertsteuersatz, wie in Frankreich, sehr zielgenau helfen könnte.
Vielmehr entstehen die wirklichen finanziellen Ungerechtigkeiten durch den
der Ausfall an (zumeist: mütterlicher) Erwerbsarbeitszeit und durch die
Behinderung des beruflichen Aufstiegs. Diese Kosten sind so immens, dass der
Staat sie nicht ausgleichen kann. Dagegen lässt sich eine ordentliche
Betreuungsinfrastruktur, ganztags und auch für unter Drei- und über
Sechsjährige, auf lange Sicht gesehen durchaus finanzieren. Unsere Nachbarstaaten,
nicht nur die „reichen“ Skandinavier, sondern beispielsweise auch
Belgien und Frankreich, sind dazu jedenfalls in der Lage.
Kindergärten müssen Bildungseinrichtungen werden. Diese Forderung erhebt die Kulturwissenschaftlerin Donata Elschenbroich in ihrem Bestseller Weltwissen der Siebenjährigen. Kinder könnten und wollten lernen, ihr „Bildungshunger“ solle deshalb gestillt werden. Ihre Denkfähigkeit sei nicht geringer als die eines Erwachsenen, nur sei naturgemäß die Menge des Vorwissens kleiner. Die Zeit im Kindergarten wäre demzufolge im Idealfall eine Zeit, in der Kinder ohne festgelegten Kanon und ohne Leistungsdruck lernen würden, in der ihr Forscher- und Entdeckerdrang kindgerecht aufgegriffen werden könnte. Die Pisa-Studie hat aufgedeckt, welche Probleme unser Bildungswesen hat. Davon kann der vorschulische Bereich nicht unbeeindruckt bleiben. Denn in anderen Ländern gibt es dort durchaus einen Bildungsauftrag. In nahezu allen Nachbarstaaten der Europäischen Union werden die Erzieher und Erzieherinnen an Hochschulen ausgebildet und entsprechend bezahlt. Bei uns ist der Erzieherberuf mit einem enorm niedrigen sozialen Status ausgestattet, der sich in entsprechend niedriger Entlohnung niederschlägt.
Ganztagsschulen müssen eine zusätzliche Funktion zugewiesen bekommen. So wie Kindergärten einen Bildungsauftrag erhalten müssen, müssen Schulen umgekehrt einen Erziehungsauftrag bekommen. Nur so kann diese Gesellschaft dafür sorgen, dass Kinder unabhängig vom Elternhaus gleiche Chancen haben. Außer der Notwendigkeit der Ganztagsschule – für alle, nicht nur für sozial Benachteiligte – bestätigt die Pisa-Studie auch die unerträgliche soziale Selektion, die unser gegliedertes Schulsystem bereits bei Zehnjährigen vornimmt. Die Schüler und Schülerinnen müssen, wie in den EU-Partnerländern auch, deutlich später auf unterschiedliche Schulen aufgeteilt werden.
Die Zeit der klassischen, primär sozialpolitisch motivierten Familienpolitik, ist abgelaufen. Kinder müssen im Mittelpunkt stehen und die Gleichstellung zwischen Männern und Frauen – auch in ihren Rollen als Mütter und Väter – muss vorangetrieben werden. Wir brauchen einen neuen übergreifenden, von der Bildungs- bis hin zur Stadtplanungspolitik reichenden Ansatz mit dem Ziel, ein Leben mit Kindern nicht nur erstrebenswert, sondern auch möglich zu machen.
aus: Berliner Republik 1/2002, S. 71–75.
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