Anmerkungen zur aktuellen Reformpolitik
von Kerstin Griese
- Die Regierungserklärung Gerhard Schröders, die Reform des
Sozialstaats entschiedener als bisher voranzutreiben, war wichtig und überfällig.
Dabei steht für mich im Vordergrund: Ziel unserer Politik ist nicht das Sparen,
sondern Ziel ist, mehr Menschen in Arbeit zu bringen und den Sozialstaat zu verändern,
um ihn erhalten zu können.
- Eigentlich hätten die Reformmaßnahmen aber schon viele Jahre
früher einsetzen müssen, denn die ungeheuren Versäumnisse nach
16 Jahren Kohl-Regierung waren allen bewusst. Jetzt müssen wir ausgerechnet
in einer konjunkturell außerordentlich problematischen Lage die nächsten
Reformschritte angehen. Besonders bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik müssen
die Übergänge besser gestaltet werden und dürfen nicht wie
zur Zeit zum Abbau von Maßnahmen führen.
- Die soziale Balance unserer Reformen muss deutlicher werden. Das heißt,
dass beide Wirtschaft und Arbeitnehmer in die Pflicht genommen werden
müssen. Deswegen sind die Veränderungen im Bereich des Handwerks (Meisterprivileg)
und das Steuervergünstigungsabbaugesetz mit seinen Subventionsstreichungen
für eine Reihe von Branchen, das die Bundesrats-Mehrheit momentan blockiert,
für uns von großer Bedeutung.
- Die Reform des Sozialstaats kann kein Projekt der Regierung beziehungsweise
der Bundestagsfraktion sein. Sondern es ist eine originäre Aufgabe der SPD,
die programmatische Richtung ihrer Politik festzulegen. Die Partei muss
deshalb am Diskussionsprozess über die Reformpolitik intensiv beteiligt werden.
In mehreren Regionalkonferenzen werden die Konzepte vorgestellt und diskutiert.
- Unser heutiges Sozialstaatsmodell basiert immer noch auf den Prinzipien
der klassischen Arbeitsgesellschaft, die längst Historie ist: als für
den männlichen Teil der Bevölkerung Vollbeschäftigung garantiert
war und das Normalarbeitszeitverhältnis sowie die lebenslange, ununterbrochene
Erwerbsbiografie eine Normalität war. Damals reichte es aus, dass der Sozialstaat
seine Funktion als soziales Netz erfüllte. Heute, in einer komplett
veränderten Welt, müsste wir dagegen weit mehr als ein soziales Netz
haben nämlich ein Trampolin, das die Menschen zurück
in die Erwerbsarbeit federt.
- Mehr Sozialstaat heißt nicht automatisch mehr soziale Gerechtigkeit.
Mittlerweile geben wir ein Viertel unseres Bruttoinlandproduktes für Sozialleistungen
aus, trotzdem steigt die Zahl derer, die an den Rand der Gesellschaft gedrückt
werden. Doch der Umkehrschluss, den Sozialstaat abzubauen, wäre genauso falsch,
sondern brächte soziale Verwerfungen mit sich, die wir bislang nur aus den
angelsächsischen Ländern kennen. Beispiele aus unseren kontinentaleuropäischen
Nachbarländern zeigen dagegen, dass wir eher einen gestärkten Sozialstaat
brauchen. Wir brauchen ein komplett umgebautes Sozialsystem, auf das sich
die Menschen in der unübersichtlicher und flexibler gewordenen Gesellschaft
verlassen können und das schnell, zuverlässig und zupackend hilft, eine
dauernde Ausgrenzung aus der Erwerbsarbeit zu verhindern.
- Langfristig sollten steuerfinanzierte Sozialleistungen für eine breit
angelegte Grundsicherung verwendet werden. Mit der Schaffung der Grundsicherung
für alte und behinderte Menschen ist es rot-grün gelungen, einen ersten
wichtigen Schritt zu unternehmen, um eine neue Sozialstaatsphilosophie zu erreichen.
- Wir brauchen einen Abbau der Lohnnebenkosten. Denn Betriebe, die Arbeitsplätze
abbauen, bekommen vom Staat einen Extra-Bonus: die Entlastung von den hohen Lohnnebenkosten.
Während die Steuerlast in Deutschland im internationalen Vergleich niedrig
ist, ist die Abgabenlast, die an den Faktor Arbeit gebunden ist, viel zu hoch.
Wir befinden uns in einem Teufelskreis. In Zeiten hoher Erwerbslosigkeit steigen
die Sozialausgaben, die gleichzeitig von einer geschrumpften Zahl an Arbeitnehmern
zu finanzieren sind. Dadurch steigen die Lohnnebenkosten, was dann wiederum arbeitsplatzvernichtend
ist. Die Entlastung des Faktors Arbeit durch die Ökosteuer kann nur ein erster
Schritt gewesen sein.
- Eine Entlastung der Lohnnebenkosten muss auch durch mehr Gerechtigkeit auf
der Einnahmeseite geschehen: durch die Einbeziehung von Beamten, Abgeordneten,
Freiberuflern und Selbstständigen sowie Einkünfte aus Kapitalerträgen
und Mieten und den Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze. Hier ist die Schweiz
mit ihrer niedrigen Abgabenlast ein Vorbild.
- Die Senkung der Lohnnebenkosten durch die Änderung der Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes für über 45-Jährige und die Reduktion
der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau ist dann problematisch, wenn nicht
gleichzeitig ein adäquates Angebot an Arbeitsplätzen existiert. Richtig
ist es besonders, Maßnahmen vorzunehmen, die es unmöglich machen, Arbeitnehmer
über den Umweg des Arbeitslosengeldes direkt in die Rente zu schicken. Hier
haben zu viele Betriebe auf Kosten unseres Sozialsystems ihre Belegschaften reduziert.
- Das war eine der wichtigsten Aussagen der Schröder-Regierungserklärung
die gleichzeitig am wenigsten zur Kenntnis genommen wurde: Wir werden
damit Schluss machen, dass Langzeitarbeitslose, die einen Job annehmen,
sämtliche Ansprüche auf Transferleistungen verlieren. Genau
diese Aussage ist es, die dem sozialen Netz einen Trampolineffekt
gibt. Damit werden sowohl gering bezahlte Jobs als auch Teilzeitbeschäftigungen
attraktiver.
- Ab 1. April 2003 wird es bei den Mini-Jobs neue Arbeitsmöglichkeiten
geben. Mit den Gleitzonenjobs in der Verdienstzone von 400
bis 800 € gibt es jetzt einen Einkommensbereich, in dem schrittweise ansteigende
Sozialbeiträge gezahlt werden. Damit wird ein Bereich von Erwerbsarbeit geschaffen
bzw. legalisiert, die es zuvor überhaupt nicht bzw. nur in Schwarzarbeit
gab.
- Die womöglich nachhaltigste Reform, die Rot-grün eingeleitet hat,
ist die Kampagne zur Schaffung von Ganztagsbetreuungs- und -bildungseinrichtungen.
Auf diesem Gebiet hat Deutschland gegenüber seinen Nachbarn den größten
Rückstand. Bei uns gibt es keinerlei verlässliche und planbare Möglichkeiten,
Familie, Beruf und Karriere miteinander zu vereinbaren. Wir laufen Gefahr, dass
Kinder nur noch in sozial schwachen Schichten und in der Schicht Besserverdienender,
die Betreuung und Bildung selbst bezahlen kann, vorkommen. Mit den Milliardenprogrammen
der Bundesregierung haben wir eine wichtige Entwicklung angestoßen.
- Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten war die Gestaltung der
Politik von unten immer von zentraler Bedeutung. Deshalb ist es enorm wichtig,
dass die Kommunen ihre finanzielle Handlungsfähigkeit behalten.
Mit dem Inkrafttreten der Gemeindefinanzreform Anfang 2004 und der Entlastung
von der Flutopferhilfe hat Gerhard Schröder den Städten und Gemeinden
eine Perspektive eröffnet. Außerdem bekommen die Kommunen sieben Milliarden
Euro durch das momentan blockierte Steuervergünstigungsabbaugesetz.
- Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hineingekommen ist. Es
wird innerhalb der Fraktion eine tiefgreifende Diskussion geben, wie die künftige
Politik weitergehen wird. Dabei ist es wichtig, auch große Teile der Gewerkschaften
mit ins Boot zu holen. Es zeugt von großer Unkenntnis, wenn man glaubt,
die Gewerkschaften seien ein Hort des Traditionalismus und der betonierten Unbeweglichkeit.
Dort sind fortschrittliche Reformer genauso vorhanden, wie in der SPD.
- Für mich als Sozialdemokratin sind unsere Grundwerte die entscheidenden
Maßstäbe. Auch wenn es innerhalb der SPD einzelne Stimmen gibt, diese
Grundwerte einer Revision zu unterziehen für mich gilt: gleiche Chancen
für alle, Hilfe für die Schwächeren, soziale Gerechtigkeit und
Aktivierung der Menschen zur größtmöglichen Selbstständigkeit
müssen die Ziele unseres Umbaus des Sozialstaates sein.
Rede
des Bundeskanzlers (pdf-Datei) Kurzfassung
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Rede
des Fraktionsvorsitzenden Müntefering (pdf-Datei) VIDEO
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Hans-Jürgen
Arlt: Dem Kanzler geht der Sinn stiften (FR)
28.3.03
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