Berlin | Positionen

Anmerkungen zur aktuellen Reformpolitik

von Kerstin Griese

  1. Die Regierungserklärung Gerhard Schröders, die Reform des Sozialstaats entschiedener als bisher voranzutreiben, war wichtig und überfällig. Dabei steht für mich im Vordergrund: Ziel unserer Politik ist nicht das Sparen, sondern Ziel ist, mehr Menschen in Arbeit zu bringen und den Sozialstaat zu verändern, um ihn erhalten zu können.
  2. Eigentlich hätten die Reformmaßnahmen aber schon viele Jahre früher einsetzen müssen, denn die ungeheuren Versäumnisse nach 16 Jahren Kohl-Regierung waren allen bewusst. Jetzt müssen wir ausgerechnet in einer konjunkturell außerordentlich problematischen Lage die nächsten Reformschritte angehen. Besonders bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik müssen die Übergänge besser gestaltet werden und dürfen nicht – wie zur Zeit – zum Abbau von Maßnahmen führen.
  3. Die soziale Balance unserer Reformen muss deutlicher werden. Das heißt, dass beide – Wirtschaft und Arbeitnehmer – in die Pflicht genommen werden müssen. Deswegen sind die Veränderungen im Bereich des Handwerks (Meisterprivileg) und das Steuervergünstigungsabbaugesetz mit seinen Subventionsstreichungen für eine Reihe von Branchen, das die Bundesrats-Mehrheit momentan blockiert, für uns von großer Bedeutung.
  4. Die Reform des Sozialstaats kann kein Projekt der Regierung beziehungsweise der Bundestagsfraktion sein. Sondern es ist eine originäre Aufgabe der SPD, die programmatische Richtung ihrer Politik festzulegen. Die Partei muss deshalb am Diskussionsprozess über die Reformpolitik intensiv beteiligt werden. In mehreren Regionalkonferenzen werden die Konzepte vorgestellt und diskutiert.
  5. Unser heutiges Sozialstaatsmodell basiert immer noch auf den Prinzipien der klassischen Arbeitsgesellschaft, die längst Historie ist: als für den männlichen Teil der Bevölkerung Vollbeschäftigung garantiert war und das Normalarbeitszeitverhältnis sowie die lebenslange, ununterbrochene Erwerbsbiografie eine Normalität war. Damals reichte es aus, dass der Sozialstaat seine Funktion als „soziales Netz“ erfüllte. Heute, in einer komplett veränderten Welt, müsste wir dagegen weit mehr als ein soziales „Netz“ haben – nämlich ein „Trampolin“, das die Menschen zurück in die Erwerbsarbeit federt.
  6. Mehr Sozialstaat heißt nicht automatisch mehr soziale Gerechtigkeit. Mittlerweile geben wir ein Viertel unseres Bruttoinlandproduktes für Sozialleistungen aus, trotzdem steigt die Zahl derer, die an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden. Doch der Umkehrschluss, den Sozialstaat abzubauen, wäre genauso falsch, sondern brächte soziale Verwerfungen mit sich, die wir bislang nur aus den angelsächsischen Ländern kennen. Beispiele aus unseren kontinentaleuropäischen Nachbarländern zeigen dagegen, dass wir eher einen gestärkten Sozialstaat brauchen. Wir brauchen ein komplett umgebautes Sozialsystem, auf das sich die Menschen in der unübersichtlicher und flexibler gewordenen Gesellschaft verlassen können und das schnell, zuverlässig und zupackend hilft, eine dauernde Ausgrenzung aus der Erwerbsarbeit zu verhindern.
  7. Langfristig sollten steuerfinanzierte Sozialleistungen für eine breit angelegte Grundsicherung verwendet werden. Mit der Schaffung der Grundsicherung für alte und behinderte Menschen ist es rot-grün gelungen, einen ersten wichtigen Schritt zu unternehmen, um eine neue Sozialstaatsphilosophie zu erreichen.
  8. Wir brauchen einen Abbau der Lohnnebenkosten. Denn Betriebe, die Arbeitsplätze abbauen, bekommen vom Staat einen Extra-Bonus: die Entlastung von den hohen Lohnnebenkosten. Während die Steuerlast in Deutschland im internationalen Vergleich niedrig ist, ist die Abgabenlast, die an den Faktor Arbeit gebunden ist, viel zu hoch. Wir befinden uns in einem Teufelskreis. In Zeiten hoher Erwerbslosigkeit steigen die Sozialausgaben, die gleichzeitig von einer geschrumpften Zahl an Arbeitnehmern zu finanzieren sind. Dadurch steigen die Lohnnebenkosten, was dann wiederum arbeitsplatzvernichtend ist. Die Entlastung des Faktors Arbeit durch die Ökosteuer kann nur ein erster Schritt gewesen sein.
  9. Eine Entlastung der Lohnnebenkosten muss auch durch mehr Gerechtigkeit auf der Einnahmeseite geschehen: durch die Einbeziehung von Beamten, Abgeordneten, Freiberuflern und Selbstständigen sowie Einkünfte aus Kapitalerträgen und Mieten und den Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze. Hier ist die Schweiz mit ihrer niedrigen Abgabenlast ein Vorbild.
  10. Die Senkung der Lohnnebenkosten durch die Änderung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für über 45-Jährige und die Reduktion der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau ist dann problematisch, wenn nicht gleichzeitig ein adäquates Angebot an Arbeitsplätzen existiert. Richtig ist es besonders, Maßnahmen vorzunehmen, die es unmöglich machen, Arbeitnehmer über den Umweg des Arbeitslosengeldes direkt in die Rente zu schicken. Hier haben zu viele Betriebe auf Kosten unseres Sozialsystems ihre Belegschaften reduziert.
  11. Das war eine der wichtigsten Aussagen der Schröder-Regierungserklärung – die gleichzeitig am wenigsten zur Kenntnis genommen wurde: „Wir werden damit Schluss machen, dass Langzeitarbeitslose, die einen Job annehmen, sämtliche Ansprüche auf Transferleistungen verlieren.“ Genau diese Aussage ist es, die dem sozialen Netz einen „Trampolineffekt“ gibt. Damit werden sowohl gering bezahlte Jobs als auch Teilzeitbeschäftigungen attraktiver.
  12. Ab 1. April 2003 wird es bei den „Mini-Jobs“ neue Arbeitsmöglichkeiten geben. Mit den „Gleitzonenjobs“ in der Verdienstzone von 400 bis 800 € gibt es jetzt einen Einkommensbereich, in dem schrittweise ansteigende Sozialbeiträge gezahlt werden. Damit wird ein Bereich von Erwerbsarbeit geschaffen bzw. legalisiert, die es zuvor überhaupt nicht bzw. nur in Schwarzarbeit gab.
  13. Die womöglich nachhaltigste Reform, die Rot-grün eingeleitet hat, ist die Kampagne zur Schaffung von Ganztagsbetreuungs- und -bildungseinrichtungen. Auf diesem Gebiet hat Deutschland gegenüber seinen Nachbarn den größten Rückstand. Bei uns gibt es keinerlei verlässliche und planbare Möglichkeiten, Familie, Beruf und Karriere miteinander zu vereinbaren. Wir laufen Gefahr, dass Kinder nur noch in sozial schwachen Schichten und in der Schicht Besserverdienender, die Betreuung und Bildung selbst bezahlen kann, vorkommen. Mit den Milliardenprogrammen der Bundesregierung haben wir eine wichtige Entwicklung angestoßen.
  14. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten war die Gestaltung der Politik von unten immer von zentraler Bedeutung. Deshalb ist es enorm wichtig, dass die Kommunen ihre finanzielle Handlungsfähigkeit behalten. Mit dem Inkrafttreten der Gemeindefinanzreform Anfang 2004 und der Entlastung von der Flutopferhilfe hat Gerhard Schröder den Städten und Gemeinden eine Perspektive eröffnet. Außerdem bekommen die Kommunen sieben Milliarden Euro durch das momentan blockierte Steuervergünstigungsabbaugesetz.
  15. Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hineingekommen ist. Es wird innerhalb der Fraktion eine tiefgreifende Diskussion geben, wie die künftige Politik weitergehen wird. Dabei ist es wichtig, auch große Teile der Gewerkschaften mit ins Boot zu holen. Es zeugt von großer Unkenntnis, wenn man glaubt, die Gewerkschaften seien ein Hort des Traditionalismus und der betonierten Unbeweglichkeit. Dort sind fortschrittliche Reformer genauso vorhanden, wie in der SPD.
  16. Für mich als Sozialdemokratin sind unsere Grundwerte die entscheidenden Maßstäbe. Auch wenn es innerhalb der SPD einzelne Stimmen gibt, diese Grundwerte einer Revision zu unterziehen – für mich gilt: gleiche Chancen für alle, Hilfe für die Schwächeren, soziale Gerechtigkeit und Aktivierung der Menschen zur größtmöglichen Selbstständigkeit müssen die Ziele unseres Umbaus des Sozialstaates sein.

Rede des Bundeskanzlers (pdf-Datei) Kurzfassung (pdf-Datei) VIDEO (RealPlayer)
Rede des Fraktionsvorsitzenden Müntefering (pdf-Datei) VIDEO (RealPlayer)

Hans-Jürgen Arlt: Dem Kanzler geht der Sinn stiften (FR)

28.3.03

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