Berlin | Positionen

Für eine moderne Familienpolitik

von Kerstin Griese

Kinder haben eigene Rechte. Diese Überzeugung steht im Mittelpunkt einer sozialdemokratischen Familienpolitik. Kinder haben das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, gute Förderung, beste Gesundheitsvorsorge, Bildung und ein Leben ohne Armut. Familienpolitik ist ein entscheidender Baustein einer vorsorgenden Sozialpolitik. Unser klassisches – auf Otto von Bismarck zurückgehendes – Sozialsystem zielte auf die Versorgung des lebenslang vollzeitbeschäftigen männlichen „Familienernährers“. Durch die sich zunehmend globalisierende Ökonomie, die Gleichstellung von Frau und Mann und nicht zuletzt durch den demografischen Wandel sind wir aber gezwungen, dieses System grundsätzlich umzubauen.

Als das Berliner Programm 1989 beschlossen wurde, war der Begriff des „demografischen Wandels“ für viele noch ein Fremdwort. Erst im neuen Jahrtausend wurde vollständig begriffen, welche Herausforderung damit verbunden ist. Dabei war die Grundlage für den Bevölkerungsrückgang schon damals gelegt. In 1970er Jahren verzeichnete Deutschland einen erheblichen Geburtenrückgang, der zur Folge hat, dass unsere heutige Geburtenrate eine der weltweit niedrigsten ist. Denn in den Siebzigern wurden die Kinder nicht geboren, die heute als Eltern fehlen.

Wer Familienpolitik allein an einer erfolgreichen Veränderung der Bevölkerungsentwicklung messen will, braucht einen langen Atem. Schon weil eine solche Veränderung nur über Generationen zu erreichen sein wird, muss die Familienpolitik einen erheblichen Stellenwert in unserem Grundsatzprogramm haben, das sich der Zukunft, nachfolgenden Generationen und einer nachhaltigen Politik verpflichtet fühlt.

Familienpolitik wird den demografischen Wandel nicht mehr ändern können. Denn die fehlenden Geburten der Vergangenheit – genauso wie die falsche Einwanderungspolitik – sind nicht rückholbar.

Eine moderne sozialdemokratische Familienpolitik, die sich als Teil einer vorsorgenden Sozialpolitik versteht, gründet auf zwei Elementen:

Familienpolitik ist Kinderpolitik

Für keine andere gesellschaftliche Gruppe besteht ein höheres Armutsrisiko als für Kinder. Jedes sechste Kind in Deutschland lebt von Arbeitslosengeld II oder von Sozialhilfe, insgesamt sind mehr als 2,5 Millionen Kinder betroffen. Dabei ist Armut weit mehr als materielle Armut, diese geht vielmehr einher mit mangelnder Förderung, fehlenden Anreizen, wenig Bildungschancen, Sprachdefiziten, wenig Bewegung, fehlerhafter Ernährung und einem schlechten Gesundheitszustand.

Es ist eine sozialdemokratische Grundüberzeugung, dass jedes Kind gleiche und eigenständige Rechte hat: auf eine gute Entwicklung und Chancengleichheit – unabhängig vom sozialen Status seiner Eltern. Deswegen brauchen wir weit mehr gesellschaftliche Verantwortung für die Kleinsten – und ein offensives Zugehen auf die Eltern.

Einen qualitativ neuen Schritt in der Einbeziehung der Eltern gehen die Briten mit den Early Excellence Centres. Diese – zumeist in sozialen Brennpunkten angesiedelten – frühpädagogischen Einrichtungen sollen jedem Kind einen Sure Start ins Leben ermöglichen. Sie sollen Bildung für die Kleinsten ermöglichen – nicht nur durch Sprachförderung, sondern auch durch musikalische, künstlerische, mathematische und naturwissenschaftliche Lernangebote. Dabei kommt man den Eltern nicht mit dem erhobenen Zeigefinger – diese werden in ihrer Rolle vielmehr ernst genommen und als Fachleute in Fragen ihres Kindes anerkannt. Indem sie die notwendigen Hilfestellungen erhalten, werden sie aber gleichzeitig motiviert, diese Rolle auch auszufüllen. Erzieherinnen und Erzieher besuchendie Eltern daher zu Hause und machen sich dort ein Bild von dem Entwicklungsstand des Kindes. Erziehungsberatung und Sprachkurse für Eltern, Gesundheitsberatung, Kochkurse und Arbeitsvermittlung – was zuvor an unterschiedlichen Orten angeboten wurde und die wirklich Betroffenen nicht so recht erreichte, ist in diesen Zentren gebündelt untergebracht.

Ein flächendeckender Aufbau von solchen Eltern-Kind-Zentren muss unser Ziel sein. Die Gesellschaft muss dort offensiv präsent sein, wo die Kinder sind, die unserer Hilfe bedürfen.

Wir wissen, dass viele Eltern ihren Kindern nicht genug Förderung und Anreize bieten können. Insbesondere in von Armut bedrohten Familien sind Mädchen und Jungen einem überdurchschnittlichen Fernseh- und Videospielkonsum ausgesetzt; häufig sind sie dabei allein und ihre Eltern wissen nicht, was sie konsumieren. Gerade für solche Kinder ist eine möglichst frühe Förderung in Kindertageseinrichtungen wichtig, denn mit ihr werden die Grundlagen für die späteren Chancen der Kinder in der Schule gelegt. Zudem profitieren Kinder aller gesellschaftlichen Schichten von den Möglichkeiten des sozialen Lernens in einer Gruppe.

Aus diesen Gründen brauchen wir eine zweite Bildungsreform. Während die Reformen der 1970er Jahre den Hochschulzugang öffneten, müssen wir heute ganz am Anfang, bei den Kleinsten ansetzen. Nur so haben wir die Chance, einer weitere Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken.

Bildung ist entscheidend, um zu verhindern, dass sich Armutskarrieren über Generationen „vererben“. Und für die Eltern, insbesondere auch für Alleinerziehende, muss es darauf ankommen, dass sie erwerbstätig sein können. Das ist die mit Abstand beste Prävention gegen Armut in allen ihren Ausprägungen. Deshalb gilt auch hier: Die Vereinbarkeit von Beruf und Kind muss verbessert werden. Familienpolitik ist vorsorgende Sozialpolitik.

Familienpolitik als Gleichstellungspolitik

Wir wollen, dass auch in der Mitte unserer Gesellschaft – und unserer Städte – wieder häufiger Kinder leben und wahrnehmbar sind. Man hat bislang den Eindruck, dass wir die Familien aus unserer Mitte regelrecht herausdrängen und in die Reihenhaus- und Eigenheimsiedlungen am Rande der Städte oder in die sozial benachteiligten Stadtviertel „abschieben“. Wenn aber Kinder in den Städten ebenso wie in der Gesellschaft zu exotischen Ausnahmen werden, verliert die Gesellschaft ein Stück ihrer Zukunftsfähigkeit.

Es ist eine wichtige Errungenschaft, dass sich keine Frau mehr gezwungen sieht, Kinder zu bekommen. Viele Frauen und Männer wünschen sich jedoch Kinder – wagen dann aber nicht den Schritt.

Akademikerinnen bleiben ungefähr doppelt so häufig kinderlos wie Frauen mit Hauptschulabschluss. Dieser „statistische Blick“ auf die Frauen übersieht aber, dass sich viele Männer – darunter auch sehr viele Akademiker – auf eine partnerschaftliche Teilung von Erziehung, Hausarbeit und Berufschancen nicht einlassen wollen. Wir haben de am besten ausgebildete Generation junger Frauen, die es je in Deutschland gab, und die nicht auf ihre beruflichen Chancen verzichtenwill. Deswegen wird unsere Gesellschaft erst dann wieder kinderfreundlicher werden, wenn die Männer ihrer Verantwortung für Kinder und Familie gerecht werden.

Es muss für Väter wie für Mütter gleichermaßen gelten: Kinder und Familie müssen mit Beruf und Karriere zusammengehen. Wir wissen aus dem Vergleich mit unseren nord- und westeuropäischen Nachbarn, dass dort Frauen und Männer in weitaus größerem Maße beide erwerbstätig sind und die Kinderbetreuung weitaus besser ausgebaut ist. Gleichzeitig ist die Geburtenrate erheblich höher als bei uns.

In kaum einem anderen Land hat sich die Gesellschaft ihrer Mitverantwortung für die Kinder derart verweigert wie im Deutschland der 1980er und 1990er Jahre. Erst die rot-grüne Bundesregierung hat einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Erst mit dem Ganztagsschulprogramm und dem Gesetz zur Betreuung von unter Dreijährigen ist Deutschland in der Gegenwart angekommen. Allerdings bleibt noch viel zu tun.

Dreiklang aus Geld, Infrastruktur und Zeit

  1. Deutschland transferiert rekordverdächtige Finanzsummen an die Familien, insbesondere das Kindergeld und die Kinderfreibeträge in Deutschland sind die höchsten weltweit. Einhundert Milliarden Euro, so eine aktuelle Bilanz, investieren wir alljährlich in Familien, das sind 4,5 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes, verteilt auf 145 verschiedene Einzelmaßnahmen und Gesetze. Doch genügend erfolgreich sind wir damit nicht: Das Armutsrisiko von Kindern ist hoch, und die Geburtenrate ist niedrig. Denn es fehlt an Zielgenauigkeit. Ein großer Posten der Familienförderung ist das Ehegattensplitting, das mehr als 20 Milliarden Euro jährlich kostet. Doch in 43 Prozent der Haushalte, die vom Ehegattensplitting profitieren, leben keine Kinder beziehungsweise keine Kinder mehr. Und 25 Prozent aller Kinder kann das Splitting überhaupt nicht erreichen, da ihre Eltern nicht verheiratet sind. Unsere Familienförderung muss im Hinblick auf ihre Zielgenauigkeit einer generellen Revision unterzogen werden. Auch wir müssen unsere Finanzmittel konsequent dafür einsetzen, dass Kind und Beruf miteinander vereinbar sind.
  2. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Krippe oder in einer Kindertagesstätte – von Anfang an, den ganzen Tag, für alle Kinder. Diesen qualitativen und quantitativen Ausbau unserer Betreuungseinrichtungen umzusetzen, ist eine große Herausforderung. Aber anderen Ländern gelingt das auch, ohne dass es ihnen an anderer Stelle mangelt. Wahrscheinlich ist das Gegenteil der Fall: Die gute frühe Förderung von Kindern zahlt sich nicht nur individuell aus, sondern auch ökonomisch für die gesamte Gesellschaft – genauso wie ein System, dass die Erwerbstätigkeit der Eltern absichert. Mit dem Ausbau unserer kindbezogenen Infrastruktur erreichen wir zwei Ziele gleichermaßen: Die Armutsrisiken bei Kindern zu bekämpfen sowie für eine Vereinbarkeit von Kind und Beruf zu sorgen.
  3. Elternschaft braucht Zeit. Die Fiktion des allseits flexiblen, globalen und ungebundenen Arbeitnehmers ist zutiefst familienfeindlich. Deshalb muss die Wirtschaft ihrer Verantwortung gerecht werden und für mehr Kinder- und Familienfreundlichkeit sorgen. Teilzeitanspruch, Elterngeld und Partnermonate sind die Dinge, die die Politik bereits angestoßen hat. Einen Bewusstseinswandel in den Unternehmen kann aber nur die Gesellschaft insgesamt bewirken.

Literaturhinweise:
Ulrich Deupmann, Die Macht der Kinder! Kinder sind unsere Zukunft: wirtschaftlich, sozial, politisch, Frankfurt: S. Fischer 2005
Susanne Gaschke, Die Emanzipationsfalle: Erfolgreich, einsam, kinderlos, München: C. Bertelsmann 2005
Kerstin Griese/Harald Schrapers, Perspektiven für Kinder: Auf die Kleinsten kommt es an, in: Hubertus Heil und Juliane Seifert (Hg.), Soziales Deutschland: Für eine neue Gerechtigkeitspolitik, Wiesbaden: VS, 2005, S. 103–112

aus: Kurt Beck/Hubertus Heil (Hg.), Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert: Lesebuch zur Programmdebatte der SPD, Berlin: vorwärts buch 2007, S. 253–257

13.4.07

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