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Der lange Abschied vom Zivildienst

Mit der De-facto-Abschaffung des Wehrdienstes fällt auch der Zivildienst. Jetzt ist guter Rat teuer

von Kerstin Griese und Harald Schrapers

In den vergangenen Monaten wurden die Lebenspläne vieler junger Männer gehörig durcheinandergewirbelt: Am 1. Juli dieses Jahres sind Wehr- und Zivildienst von neun auf sechs Monate verkürzt worden, keinen Monat später planen die zuständigen Ministerien gar die Aussetzung der Dienstpflicht. Auch in den Einrichtungen, die mit der Arbeitskraft der Zivildienstleistenden rechnen, ist die Verunsicherung groß.

Seit einigen Jahren sinkt die Dauer des Wehr- und Zivildienstes in Deutschland kontinuierlich – meist ohne breite öffentliche Diskussion. Doch jetzt ist offensichtlich eine Grenze erreicht. Allerdings sorgt weniger die Länge des Bundeswehrdienstes für Aufregung als die Reduzierung des Zivildienstes. Denn mit der nun möglich erscheinenden vollständigen Aussetzung der Wehrpflicht könnte eine wichtige gesellschaftliche Säule wegbrechen. Gleichzeitig plant CDU-Familienministerin Kristina Schröder, einen privilegierten freiwilligen Zivildienst zu schaffen, eine Maßnahme, die dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) den Boden entziehen würde.

In vielen Diskussionen über die Wehrpflicht geht es gar nicht mehr um die Bedürfnisse der Bundeswehr, sondern um den Ersatzdienst. „Haben Sie gedient?“, fragt heute kaum noch ein Personalchef. Eine verantwortungsvolle Tätigkeit als „Zivi“ hingegen kann im Lebenslauf durchaus ein Pluspunkt sein und gilt als sinnvoller Dienst an der Gemeinschaft. Obwohl der Ersatzdienst so lange existiert wie die 1956 eingeführte Wehrpflicht, wurde der Zivildienst eigentlich erst in den siebziger Jahren stärker öffentlich wahrgenommen – und brauchte Jahre, um sein „Drückeberger“-Image zu verlieren. Nun gerät er wehr- und schuldlos in den Strudel der Wehrdienstverkürzung.

Große Lücken wurden in den Zivildienst bereits bei der letzten Reduzierung auf neun Monate geschlagen. Damit war die kontinuierliche Versorgung im Jahresrhythmus nicht mehr gewährleistet. Weil die meisten Zivildienstleistenden ihren Dienst unmittelbar nach dem Ende ihrer Schulzeit antreten, mussten viele Einrichtungen während der Sommermonate eine Phase der Personalknappheit überbrücken. In vielen Einsatzbereichen sind die Zivildienstleistenden kaum verzichtbar, auch wenn sie keine regulären Arbeitsplätze ersetzen. Von ihnen hängt gar nicht so sehr die fachgerechte Versorgung älterer, pflegebedürftiger oder behinderter Menschen ab. Vielmehr sorgen Zivildienstleistende für mehr Lebensqualität, für einen sozialen Mehrwert, für Spielen und Reden, Basteln und Einkaufen, oft einfach für Zeit und Zuwendung. Und auch für die jungen Männer selbst, die sonst nie mit sozialen Tätigkeiten in Berührung gekommen wären, ist die Zivildienstzeit eine unersetzliche Erfahrung.

Wo der unmittelbare Dienst am Menschen im Mittelpunkt steht, hat sich die Situation durch den soeben eingeführten nur noch halbjährigen Dienst deutlich erschwert. Hinzu kommt die Verunsicherung durch das hastige Verfahren. Die Verkürzung birgt die Gefahr der Trivialisierung des Zivildienstes durch die Reduzierung auf handwerkliche Hilfsleistungen. Kosten für Sold und Qualifizierung der Zivildienstleistenden stehen mit jeder Verkürzung in einem ungünstigeren Verhältnis zum Nutzen. Und die eben erst beschlossenen Bildungselemente, die den Zivildienst als Lerndienst stärken sollten, werden unter diesen Bedingungen grob vernachlässigt.

Wie sich SPD-Abgeordnete einmal irrten

Immerhin hat sich die schwarz-gelbe Koalition nach vielem Hin und Her auf ein halbgares Konzept zur freiwilligen Verlängerung des Zivildienstes geeinigt. Frühestens zwei Monate nach dem Beginn seines Dienstes darf ein Zivildienstleistender künftig eine Verlängerung vereinbaren. Mit dieser nur schwer kontrollierbaren Regelung will die Regierung verhindern, dass potenzielle Zivildienstleistende schon vor einer Stellenzusage dazu gedrängt werden, einer Verlängerung zuzustimmen.

Bedauerlicherweise hat es die Große Koalition ihrerseits versäumt, ein durchdachtes Konzept einer freiwilligen Verlängerung des Zivildienstes vorzulegen. Damals sperrte sich die Mehrheit der SPD-Abgeordneten im zuständigen Fachausschuss gegen eine Verlängerungsregelung, weil sie damit reguläre Arbeitsplätze bedroht sah. Richtig ist, solche Bedenken ernst zu nehmen. Falsch ist, daraus die Notwendigkeit eines pauschalen Verbots zu folgern.

Die Verkürzung auf sechs Monate und deren mögliche Verlängerung ist bereits eine Debatte von gestern. Kaum wird das eine in die Tat umgesetzt, wird bereits hastig der nächste Schritt eingeleitet. CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg erstaunt seine Partei mit der Abschaffung der Wehrpflicht, die jetzt verschämt „Aussetzung“ genannt wird (als ob irgendjemand glaubt, dass die Geschichte noch einmal zurückgedreht werden würde). Die Bundesfamilienministerin läuft pflichtgemäß hinterher. Mit ihrem Konzept eines freiwilligen Zivildienstes möchte sie in erster Linie den Schein aufrechterhalten, man könne den Pflicht-Ersatzdienst später wieder einführen. Wichtig ist ihr, dass die staatlichen Einrichtungen zur Verwaltung des Zivildienstes erhalten bleiben.

Kristina Schröders unpraktikable Pläne

Und genau dort liegt das Problem. Der Zivildienst ist gegenüber dem Freiwilligen Sozialen Jahr privilegiert. Während des FSJ bekommen die – zumeist weiblichen – Freiwilligen etwa 150 bis 200 Euro Taschengeld pro Monat, bei einigen Trägern bis zu 300 Euro. Die zurzeit noch ausschließlich männlichen Zivildienstleistenden erhalten 500 Euro, teilweise mehr, je nach Dauer und Situation in der Einsatzstelle. Auf der Anbieterseite gibt es ein ähnliches Missverhältnis. Denn die Verbände, die Zivildienststellen anbieten, erhalten einen erheblichen Zuschuss vom Bund. Beim FSJ ist die öffentliche Unterstützung deutlich geringer, somit ist eine Freiwilligenstelle etwa dreimal so teuer wie eine Zivildienststelle. Für das FSJ zahlt der Bund bislang einen Zuschuss in Höhe von 72 Euro monatlich für die Bildungsleistungen. Zwar geben einige Länder zusätzliches Geld, aber insgesamt scheitert eine bessere Finanzierung des FSJ immer wieder am Föderalismus.

Die Folgen dieser Politik lassen sich leicht ausmalen. Alle Interessierten werden auf die von Kristina Schröder geplanten 35.000 Zivildienst-Stellen drängen (das ist nicht besonders viel, heute zählen wir immerhin noch 90.000 Zivildienstleistende). Aus dem FSJ wird damit ein Dienst zweiter Wahl: geringer bezahlt, schlechter ausgestattet. Es wird an Attraktivität einbüßen. Diese Pläne sind unpraktikabel. Wer derart in die Struktur der Freiwilligendienste eingreift, wird viel zerstören.

Es gibt also keine Alternative dazu, ein Konzept zu entwickeln, das das FSJ gegenüber einem freiwilligen Zivildienst gleichstellt. Ein echter Schritt nach vorn wäre es gewesen, wenn die Ministerin gemeinsam mit den zivilgesellschaftlichen Trägern der Freiwilligendienste ein Konzept erarbeitet und dabei auf den „Impulsen für die Zivilgesellschaft“ ihrer Vor-Vorgängerin Renate Schmidt aufgebaut hätte.

Aber warum nicht gleich einen sozialen Pflichtdienst einführen, wie es seit Jahren gefordert wird? Das Argument lautet, junge Menschen stünden in der Pflicht, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Dagegen sind wir der Auffassung, dass sich ein derart schwerwiegender Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen nicht ausreichend begründen lässt. Dem Argument, dass junge Menschen der Gesellschaft etwas zurückgeben sollten, wollen wir uns hingegen nicht verschließen. Kinder und Jugendliche wurden durch den „Zeitgeist“ immer mehr auf schnelle Bildungsgänge, Verwertbarkeit und Karriere hin orientiert. Frühere Einschulung, kürzere Schulzeiten, beschleunigte Studiengänge – inzwischen werden die „Kollateralschäden“ in Form von zunehmendem Egoismus und fehlender gesellschaftlicher Verantwortung deutlich. Da ist es gut, dass sich der Wind etwas gedreht hat.

Davon einmal abgesehen ist die Idee, jungen Menschen soziale Verantwortung als „Pflicht“ aufzuerlegen, sowieso ein Widerspruch in sich. Es ist ein beträchtliches Maß an Freiwilligkeit notwendig, wenn ein Dienst als soziales Lernen, als Erproben einer Kultur des Miteinanders funktionieren soll. Das beweist schon der heutige Zivildienst: Er ist nur erfolgreich, wenn sich die jungen Männer bewusst für die zu leistende Tätigkeit entscheiden. Gerade bei vielen sozialen Tätigkeiten, etwa im Pflegesektor, ist die Freiwilligkeit der Entscheidung unabdingbar. Deswegen brauchen wir einen erheblichen Ausbau der Freiwilligendienste. Dabei muss es eine Gegenleistung für das Engagement des Einzelnen geben, etwa durch berufsqualifizierende Dienstanteile, die Anerkennung als Praktikum für verschiedene Studiengänge oder die Besserstellung bei der Zulassung zum Studium. Ebenso wichtig ist eine Anerkennung von Freiwilligendiensten in allen Teilen der Gesellschaft.

Das Hauptproblem sind die fehlenden Plätze

Nicht nur diejenigen mit den besten Schulabschlüssen und Berufschancen dürfen die Möglichkeit des zivilgesellschaftlichen Engagements ergreifen, so wie es heute vielfach geschieht. (An dieser Tatsache ändern übrigens auch die von der Großen Koalition gestarteten Programme für benachteiligte Jugendliche kaum etwas, die weitgehend aus EU-Mitteln finanziert werden.) Freiwilligendienste müssen auch Lerndienste sein, von denen gerade gering qualifizierte junge Menschen profitieren können.

Das Hauptproblem sind die fehlenden Plätze. Die Nachfrage nach einem sozialen Jahr ist bis zu dreimal größer als das Angebot, bei Tätigkeiten im Ausland gibt es sogar zehnmal mehr Bewerberinnen und Bewerber als Plätze. Es ist ein Skandal: Junge Menschen wollen sich engagieren, finden aber keine Stelle! Aus unserer Sicht brauchen wir keine Pflicht zum Freiwilligendienst. Stattdessen brauchen wir einen Staat, der jedem Jugendlichen einen Freiwilligenplatz anbieten kann.

Die Verpflichtung dazu ist das entscheidende Gebot der Stunde: Jedem jungen Menschen wird über die Schule eine Freiwilligenstelle angeboten, die seinen Bedürfnissen entspricht. Wahrscheinlich ist ein Mindestalter von 17 oder 18 Jahren sinnvoll, damit die Jugendlichen davon wirklich profitieren können. Durch eine derart breite Freiwilligenbewegung könnte nachhaltig für mehr soziale Verantwortung gesorgt werden. Wir wollen erreichen, dass sich junge Menschen für das Gemeinwohl verantwortlich fühlen. Dazu brauchen wir neben einer Kultur der Anerkennung weniger Ellbogenmentalität und rücksichtslosen Egoismus.

Neue Perspektiven bei der Berufswahl

Viele junge Männer und Frauen möchten sich engagieren und können in einem sozialen Jahr Erfahrungen sammeln, die ihnen später bei der Berufswahl neue Perspektiven ermöglichen. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels sollte jede Chance genutzt werden, um junge Menschen für Berufe aller erdenklichen Bereiche zu interessieren. Wichtig sind ferner die Freiwilligendienste im Ausland, für die die SPD-geführte Regierung mit „weltwärts“ ein sehr beliebtes Programm neu aufgelegt hat, das aber von Haushaltskürzungen bedroht ist. Es ist wichtig, dass auch der Dienst im Ausland für Jugendliche möglich ist – und zwar unabhängig vom Einkommen der Eltern.

Jetzt heißt es: Erst nachdenken, dann handeln! Dass der Kompromiss für einen sechsmonatigen Wehr- und Zivildienst nicht lange halten würde, war von Anfang an erkennbar. Und die neue Konzeption mit gerade einmal 35.000 Plätzen für einen freiwilligen Zivildienst ist ein inakzeptabler Rückschritt für das freiwillige Engagement junger Menschen. Eine wesentliche Herausforderung im 21. Jahrhundert wird darin bestehen, junge Menschen für soziales Engagement zu gewinnen, um eine Kultur des Miteinanders lernen und leben zu können.

aus der Berliner Republik 4/2010, Seiten 80–82.

Berliner Republik

4.10.10

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