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Gute Chancen für alle Kinder

Materielle Umverteilung ist nicht genug. Heute wissen wir, wer armen Familien und ihren Kindern wirklich helfen will, der muss sich für einen intervenierenden Sozialstaat einsetzen, der vorsorgt und in Notlagen energisch eingreift

von Kerstin Griese und Harald Schrapers

Die Kinderarmut hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Während Wohlhabende immer weniger Kinder bekommen, wohnen in den sozial abgehängten Stadtteilen immer mehr junge Menschen. Was aber „Armut“ genau ist, lässt sich schwer definieren. Ein moderner Armutsbegriff bezieht sich auf den Ausschluss von Teilhabe – beispielsweise an Bildung, Gesundheit und Arbeit. Trotzdem wird in der öffentlichen Diskussion fast immer ein materieller Armutsbegriff zugrunde gelegt. Hartz IV verursache Armut, heißt es dann etwa. Im Land Berlin bekommt ein erwerbsloses Paar mit zwei Kindern, von denen eines im Jugendalter ist, inklusive Wohnungsmiete im Durchschnitt 1.723 Euro Arbeitslosengeld II. Ist diese Familie arm, weil sie Sozialleistungen erhält? Das hieße umgekehrt: Wenn staatliche Leistungen ausgeweitet werden, gibt es mehr Anspruchsberechtigte und automatisch mehr Armut.

Die Europäische Union verwendet ein relatives Armutskonzept. Demnach liegt die Armutsrisikogrenze eines Haushalts bei 60 Prozent des Durchschnitts – hat ein Haushalt weniger Einkünfte, gelten dessen Mitglieder als arm. Hohe Lohnabschlüsse würden zu mehr relativer Armut führen, weil sich dadurch das Durchschnittseinkommen erhöht. Gemäß dieser Definition sind in Deutschland 13,5 Prozent der Bevölkerung von Armutsrisiken betroffen, darunter viele Studierende.

Jedes siebte Kind in Deutschland lebt in einer Familie, die zumindest teilweise auf Arbeitslosengeld II angewiesen ist. Hinzu kommen jene Kinder, deren Familien Sozialhilfe beziehen oder in absoluter Armut außerhalb des Sozialsystems leben. Sie alle haben ein erhebliches Armutsrisiko. Dies ist die zentrale gesellschaftliche Herausforderung für die Zukunft.

Mittelschichtmütter auf Schnäppchenjagd

Obwohl die materielle Dimension der Armut sehr wichtig bleibt, zeigt ein Blick auf die Wirklichkeit, dass mit manchen Mythen aufgeräumt werden muss. So besitzen Kinder in den reichen Städten Süddeutschlands weit seltener einen eigenen Fernseher als Kinder im vergleichsweise armen Ruhrgebiet. Und wer auf dem Schulhof einer Grundschule in einem sozial benachteiligten Stadtteil die Mobiltelefone zählt, kommt auf eine höhere Zahl als in der Schule eines gutbürgerlichen Viertels. Wohlstand bedeutet nicht in jedem Fall, dass Kinder teure Konsumgüter besitzen.

Selbst auf Klassenfahrten sind die sozialen Unterschiede nicht so einfach zu erkennen. Auf dem Elternabend einer Grundschulklasse in einem sozial gemischten Stadtteil im Ruhrgebiet gab es eine überraschende Diskussion: Während die Eltern aus den schmucken Einfamilienhäusern auf maximal fünf Euro Taschengeld für eine zweieinhalbtägige Klassenfahrt beharrten, traten die weniger wohlhabenden Eltern aus den Hochhäusern für zehn Euro ein. Am Ende einigte man sich auf sechs Euro. Im benachbarten Nobel-Stadtteil gibt es solche Diskussionen gar nicht erst. Dort ist Taschengeld auf Klassenfahrten grundsätzlich untersagt.

Auch die verbreitete Annahme, Arm und Reich seien automatisch an teuren Markenklamotten zu erkennen, ist schlicht falsch. Deshalb ist die Diskussion um Schuluniformen eher albern. Auf den Kinderflohmärkten der Kirchengemeinden treffen sich vor allem die Mütter aus den Mittelschichten und tauschen sich darüber aus, wo es Schnäppchen gibt.

Wirklich lohnend wäre eine uniforme Frühstücksdose samt Inhalt für alle Kinder. Denn beim Essen wird sichtbar, wer arm und wer wohlhabend ist. Einige Kinder haben ein Vollkornbrot mit Käse dabei, liebevoll mit einem Salatblatt dekoriert, und eine von der Mutter bereits geschälte Mandarine. Andere kommen mit einer Milchschnitte, einer Tüte Chips oder einer Ein-Euro-Münze. Immer mehr Kinder gehen in der zweiten Monatshälfte ganz ohne Verpflegung in die Schule.

Kurzum: Die Diskussion über Kinderarmut ist vielschichtig. Wer Empfängern von Arbeitslosengeld II unterstellt, sie würden ihr Geld chronisch für Flachbildschirme und McDonald’s verpulvern, argumentiert an der sozialen Realität vorbei. Zu oft fehlen schlicht die Fertigkeiten und Kompetenzen, um Armutsrisiken zu umgehen. Wie soll jemand, der selbst viel fernsieht, seine Kinder zum Bücherlesen erziehen? Auch die gut gemeinten Kisten mit Auberginen, Brokkoli und anderem Gemüse bei den „Tafeln“ für Menschen in Not lassen viele Fragen offen. Wer ist schon in der Lage, daraus ein schmackhaftes Nudelgericht für seine Kinder zu kochen?

Wenn man sich die Dinge finanziell problemlos leisten könnte, haben die Tugenden Sparsamkeit und Verzicht eine andere Dimension. Zumal wohlhabende Kinder von ganz anderen Dingen profitieren: dem größeren Zimmer, dem Reitunterricht, dem teuren Klavier. Auch sind ihre Eltern in der Lage, bei den Schulaufgaben zu helfen oder Nachhilfeunterricht zu bezahlen. Engagierte Eltern achten selbstverständlich darauf, dass alle Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen stattfinden, das Kind Sport treibt und sich gesund ernährt. Sie sorgen für vielfältige Bildungsanreize von Anfang an. Wohlhabende Stadtteile wie der Berliner Prenzlauer Berg sind voller Werbeplakate für Baby- und Kleinkindkurse aller Art – bis hin zu (pädagogisch fragwürdigen) Fremdsprachangeboten.

Die soziale Segregation kommt gut voran

Das Problem der Kinderarmut wird dadurch verschärft, dass sich die Mittelschicht von den ärmeren Familien immer stärker abgrenzt. Wo die Politik Armut erst allmählich als Gefahr für die gesellschaftliche Zukunft begreift, fühlen sich viele Mittelschichtsfamilien schon heute akut bedroht. Diese Eltern setzen alle Hebel in Bewegung, um auf Distanz zu den ärmeren Stadtvierteln zu bleiben. Sie wissen, dass sie zahlenmäßig unterlegen sind und versuchen deshalb zunehmend eine eigene Infrastruktur aufzubauen, so dass sie in Kindergärten und Schulen, Arztpraxen und Bioläden unter sich sein können.

Damit verweigern sich die Eltern der Mittelschicht aus individuell nachvollziehbaren Gründen einer gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft der jüngeren Generationen. Ihre Kirchengemeinden und Elterninitiativen bieten Kindergärten für Kinder ohne große Armutsrisiken an. Anschließend wird eine Grundschule gefunden, in der die Berührungspunkte mit der sozialen Realität in den abgehängten Stadtteilen möglichst gering sind. In Nordrhein-Westfalen sorgt die Regierung Rüttgers jetzt sogar für eine Beschleunigung dieses Trends: Die Schulbezirksgrenzen wurden aufgehoben, so dass die engagierten Eltern ihre Sprösslinge zu einer beliebigen Grundschule im Stadtgebiet kutschieren können. Und immer noch gibt es in Nordrhein-Westfalen flächendeckend städtisch-katholische Grundschulen, die zwar hundertprozentig vom Staat finanziert werden, aber muslimische Schüler vor der Tür stehen lassen. Ist eine städtische Gemeinschaftsgrundschule im gleichen Gebäude untergebracht, kommt es manchmal zu einer nahezu vollständigen Trennung von christlichen und muslimischen Schülerinnen und Schülern. Gleichzeitig nimmt besonders in Großstädten die Zahl teurer Privatschulen zu.

Angebote außerhalb der Familie

Wer Kinderarmut bekämpfen will, sollte nicht nur die betroffenen Stadtteile ins Visier nehmen. Auch in der Mitte unserer Städte müssen wir ein kinderfreundlicheres Klima schaffen, in dem sich mehr Menschen für Kinder entscheiden. Es war deshalb eine richtige Entscheidung, mit dem Elterngeld den Einkommensverlust im ersten Lebensjahr des Kindes auf ein Drittel zu begrenzen, Anreize für eine aktive Vaterschaft zu setzen und durch den Ausbau der Kinderkrippen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf abzusichern. Junge Menschen müssen Vertrauen in die öffentliche Infrastruktur für Kinder gewinnen, deshalb sind massive Investitionen in Kindergärten und Schulen notwendig. Allein der bauliche Zustand vieler Schulen im Vergleich zu anderen öffentlichen Gebäuden macht ein erschreckendes Desinteresse für das Lebensumfeld der Kinder deutlich.

Ein absoluter Schwerpunkt muss auf den Einrichtungen in den sozialen Brennpunkten liegen. Das wird teuer – doch die Folgekosten wären noch höher. Wir müssen den Kindern für einen verlässlichen Zeitraum täglich Angebote außerhalb ihrer Familien machen, sie vor schädlichem Medienkonsum schützen und ihnen eine anregende Umgebung und eine gesunde Ernährung bieten. Nicht minder entscheidend ist die Sprachförderung – übrigens nicht nur für Kinder aus Einwandererfamilien.

Britische Early Excellence Centres als Vorbild

Zugleich müssen die vielleicht begrenzten, aber ungemein wichtigen Kompetenzen der Eltern gestärkt werden. Deshalb ist ein neuer Typ der sozialen Stadtteilarbeit gefragt, bei der Eltern-Kind-Zentren die verschiedenen Beratungs- und Aktivitätsangebote aus einer Hand anbieten. Über das Stadtgebiet verstreute Sozialeinrichtungen reichen nicht aus, denn dafür müssen die Eltern erkennen, dass sie ein Problem haben. Notwendig sind flächendeckende Zentren nach dem britischen Vorbild der Early Excellence Centre.

In Zukunft wird es noch mehr darauf ankommen, dass tatsächlich genügend Menschen zur Verfügung stehen, die sich kompetent, einfühlsam und mit ausreichend Zeit um Kinder und Jugendliche, aber auch um diejenigen Eltern kümmern, die Unterstützung brauchen. Genau deshalb war so manche Sparaktion im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe in den vergangenen Jahrzehnten ein gravierender Fehler. Infrastruktur für Kinder ist ohne Personal sinnlos.

So richtig die Sozialreformen der vergangenen Jahre waren – hinter den Forderungen nach mehr finanzieller Eigenverantwortung steckt ein falscher Denkansatz. Selbstverständlich ist Eigenverantwortung einzufordern, wenn ein Empfänger von Arbeitslosengeld II nur für sich allein verantwortlich ist. Sind jedoch Kinder im Spiel, muss nachgesteuert werden. Für viele Eltern ist es eine große Herausforderung, einen pauschalierten Arbeitslosengeld II-Satz zu verwalten. Kaum eine betroffene Familie schafft es, monatliche Geldbeträge zurückzulegen, um bei Bedarf zusätzliche Anschaffungen für die Kinder zu machen. Wäre es nicht schon ausreichend, von Eltern zu verlangen, trotz Arbeitslosigkeit einen halbwegs geregelten Tagesablauf für ihre Kinder zu organisieren?

Nicht alle schaffen es, gute Eltern zu sein

Der Sozialstaat muss sich also mehr engagieren. Lange Zeit galt dies als altmodisch. Der Staat möge für Umverteilung sorgen und sich im Übrigen heraushalten – so dachten weite Teile der politischen Linken. Der patriarchale Staat sollte ebenso wie der repressive Staat der Vergangenheit angehören. Heute erkennen wird, dass dieser Anspruch nur teilweise erfüllt wird. Gerade eine Linke, die um gute Chancen für jedes Kind kämpft, muss sich für einen intervenierenden Sozialstaat einsetzen. Intervention umfasst die Vorsorge ebenso wie das Eingreifen in Notlagen. Beispielsweise gibt es bei Kindesvernachlässigungen keine Alternative zum beherzten Eingreifen eines Sozialarbeiters – auch wenn zu dessen beruflichem Selbstverständnis lange Zeit ebenfalls eine gewisse Staatsferne gehörte.

Alle Eltern wollen gute Eltern sein. Aber nicht alle Eltern schaffen das auch. Deshalb brauchen sie Unterstützung. Darauf haben sie und ihre Kinder ein Recht. Der deutsche Sozialstaat sorgt im internationalen Vergleich für beträchtliche materielle Umverteilung. Schmerzhafte Einschnitte in unser Sozialsystem waren dagegen dort zu verzeichnen, wo es um konkrete Hilfe für die Menschen geht, etwa wo durch Stelleneinsparungen Effizienzsteigerungen erzielt werden sollten. Hier muss künftig massiv investiert werden. Ein modernes Gemeinwesen, das seinen Zusammenhalt bewahren will, kommt ohne einen starken, zupackenden und gut ausgestatteten Sozialstaat nicht aus.

Gute Chancen für alle Kinder

Aus unserer Sicht ist klar, dass eine Erhöhung des Regelsatzes beim Arbeitslosengeld II die Armutsrisiken der Kinder nicht mindern wird. Zumal die Behauptung falsch ist, durch Hartz IV seien massenweise Familien in Armut gerutscht. Ein verheirateter Familienvater mit zwei Kindern bekommt fünf Jahre nach dem Jobverlust im Durchschnitt noch 62 Prozent seines letzten Nettoverdienstes. Wie eine aktuelle OECD-Studie belegt, betrug dieser Wert vor den Arbeitsmarktreformen 63 Prozent.

Wenn man Armut an ihrer Wurzel bekämpfen will, gibt es nur zwei Lösungen: Erstens Erwerbsarbeit für die Eltern und zweitens bessere Bildung beziehungsweise mehr Infrastruktur für die Kinder. Höhere Transferleistungen sorgen weder für das eine noch für das andere. Das heißt nicht, dass höhere Regelsätze die Kinder grundsätzlich nicht erreichen. Auch behaupten wir nicht, dass die Regelsätze optimal austariert sind. Nicht von ungefähr leiden derzeit viele Familien unter erhöhten Preisen für Lebensmittel, Strom und PKW-Betriebskosten.

Doch generell gilt: Öffentliche Mittel sollten zunächst in staatliche Leistungen investiert werden, die gezielt bei den Kindern ankommen. Dazu gehören auch Einmalleistungen des Arbeitslosengeldes II wie ein Gutschein über ein Schulstarterpaket in Höhe von 150 Euro, mit dem die Kinder wenigstens materiell einen guten Schulanfang erhalten. Lernmittelfreiheit, kostenfreie Frühstücksangebote und ein gesundes Mittagessen in Kitas und Schulen sind weitere dringend notwendige Bausteine eines Maßnahmenpaketes, das die von Wolfgang Jüttner geleitete Kinderarmutskommission des SPD-Parteivorstandes erarbeitet hat. Die massiven Investitionen in die Kinderbetreuung, der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab 2013 sowie das Ganztagsschulprogramm gehören ebenfalls zur Armutsbekämpfung.

Etwa ein Drittel der Armen zähle zum „Sozialhilfeadel“, schätzt die Gießener Familiensoziologin Uta Meier-Gräwe. Bei ihnen würden sich alle Probleme ballen, sie würden seit Generationen von Transferleistungen leben und hätten keinerlei Ambitionen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Aber es gibt auch viele andere Arme, etwa die vielen Alleinerziehenden. Wenn es keine verlässlichen Kinderbetreuungsangebote gibt, ist ihnen die Chance auf eine Erwerbstätigkeit oftmals vollkommen versagt. Für diese Menschen muss es viel mehr Anstrengungen geben, um sie auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln. Gerade ihnen kann zudem ein Mindestlohn dabei helfen, ohne Transferleistungen auszukommen. Darüber hinaus will die SPD dafür sorgen, dass der Kinderzuschlag zum Erwerbseinkommen so ausgebaut wird, dass niemand mehr wegen seiner Kinder auf aufstockendes Arbeitslosengeld II angewiesen ist.

Gute Chancen für alle Kinder, das muss der Leitfaden einer modernen sozialdemokratischen Politik sein. Dafür müssen Kompetenzstreitigkeiten im Föderalismus zurückstehen und alle Anstrengungen für bessere Bildungschancen der Kleinsten und die Vermittlung der Eltern in Arbeit unternommen werden. Kinder und Jugendliche wachsen in öffentlicher Verantwortung auf, und die Politik muss sich um ihre Rechte mehr kümmern als früher. Auch deshalb ist die sozialdemokratische Forderung nach einer Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz mehr als Symbolik. Dies wäre ein Zeichen echter Verantwortung.

aus der Berliner Republik Januar/Februar 2008, Schwerpunkt „Kindheit in Deutschland 2008“, Seiten 34–38.

Berliner Republik

31.1.08

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