Berlin | Positionen

Chancen für alle Kinder

Eine Meditation

von Kerstin Griese

Kinderarmut ist in unserer Gesellschaft ein doppeldeutiger Begriff. Dort wo viele Kinder leben, oft in den sozial benachteiligten Stadtteilen, gibt es ein hohes Armutsrisiko. Und dort, wo die Mittelschichten wohnen, ist die Zahl der Kinder längst so überschaubar, dass Kinderarmut als Folge des Geburtenrückgangs etwas völlig anderes bedeutet.

Ein Pfarrer in einem ärmeren Stadtteil meiner Heimatstadt erzählte mir, dass er vor dem Kindergottesdienst erst einmal Brötchen für die Kinder schmiere. Mit einem Frühstück im Magen könnten sie sich dann besser auf die biblischen Geschichten einlassen. Armut ist auch in Deutschland keine Seltenheit. Für mich als Christin und Politikerin ist das eine ganz besondere Herausforderung. Denn die „Option für die Armen“ ist nicht nur Fundament unserer Sozialethik. Sie ist auch ein Maßstab für politisches Handeln, ein Kompass.

Zugegeben: Manchmal besteht Politik aus einer unüberschaubaren Menge von Zahlen – Konjunkturpakete in Milliardenhöhe, Rettungsschirme für Banken und Arbeitsplätze, Schuldenberge und Haushaltspläne. Doch mich motivieren die Menschen, Politik zu machen. Und hinter den Zahlen, die so anonym klingen, stehen Initiativen für Menschen. Finanzielle Entscheidungen setzen Schwerpunkte in der einen oder anderen Richtung. Da gilt für mich, immer wieder neu zu orten, in welche Richtung es geht.

Mein Glauben ist dabei nicht etwa ein Navi wie die Stimme im Auto, die sagt, ob es an der nächsten Kreuzung links oder rechts herum geht. Christliche Grundwerte, in der Jugendarbeit gelernt, im Kindergottesdiensthelferkreis, auf Kirchentagen und in internationalen Jugendbegegnungen erfahren und durchs Leben getragen, helfen, den Kompass immer wieder neu zu orten. Wo geht’s lang? Das müssen wir Menschen immer wieder neu entscheiden.

„Option für die Armen“ als Kompass für politische Entscheidungen

Dieser Kompass hilft mir zu erkennen, wo ich als Politikerin leidenschaftlich kämpfen kann. Kinder sind bei uns besonders häufig von Armut bedroht. Das rüttelt auf. Denn selbst in Deutschland gilt häufig: Wer am falschen Ort geboren wird, dem ist eine Zukunft mit vielen Benachteiligungen in die Wiege gelegt. Wer in den ersten Jahren seines Lebens in Armut lebt, kommt nur schwer wieder aus ihr heraus. Dabei geht es um weit mehr als um materielle Armut: Bildungsarmut, mangelnde Förderung, Fehlernährung, schlechte Gesundheit, Bewegungsmangel – oft ballen sich viele Armutsrisiken bei einzelnen Kindern zusammen. Armut bedeutet für diese Kinder: fehlende Teilhabe, fehlende Chancen.

Kinderarmut ist in unserer Gesellschaft ein doppeldeutiger Begriff. Dort wo viele Kinder leben, oft in den sozial benachteiligten Stadtteilen, gibt es ein hohes Armutsrisiko. Und dort, wo die Mittelschichten wohnen, ist die Zahl der Kinder längst so überschaubar, dass Kinderarmut als Folge des Geburtenrückgangs etwas völlig anderes bedeutet.

Wer Kinderarmut bekämpfen will, muss deshalb auch in der Mitte unserer Städte für ein kinderfreundlicheres Klima sorgen, in dem das Zusammenleben mit Kindern möglich und sichtbar ist. Das gilt auch für unsere Kirchengemeinden, die wir weiter öffnen müssen, damit mehr Freiräume für Kinder entstehen und damit in ihnen alle Kinder mit ihren Familien eine Chance haben, sich zu beteiligen. Dort sollen sich auch die angesprochen fühlen, die nicht klassische Kirchgänger sind.

Kompetenzen der Eltern stärken

Es war sicher eine richtige Entscheidung, mit dem Elterngeld den Einkommensverlust im ersten Lebensjahr des Kindes auf ein Drittel zu begrenzen, Anreize für eine aktive Vaterschaft zu setzen und durch den Ausbau der Kinderkrippen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf abzusichern. Gleichzeitig ist für das Zurückdrängen der Kinderarmut die Schaffung einer leistungsfähigen sozialen Infrastruktur notwendig, besonders in den benachteiligten Stadtteilen. Wir müssen gerade dort den Kindern für einen verlässlichen Zeitraum täglich Angebote auch außerhalb ihrer Familien machen, sie vor schädlichem Medienkonsum schützen und ihnen eine anregende Umgebung bieten.

Zugleich müssen die Kompetenzen der Eltern gestärkt werden. Speziell die unter den Armutsrisiken leidenden Alleinerziehenden brauchen Hilfe. Deshalb ist ein neuer Typ der sozialen Stadtteilarbeit gefragt, bei der Eltern-Kind-Zentren die verschiedenen Beratungs- und Aktivitätsangebote aus einer Hand anbieten. Dort, wo Kirche mitmacht, sind Christen bei den Menschen, die am meisten Hilfe brauchen. Dort leben sie die „Option für die Armen“.

Wenn man Kinderarmut an ihrer Wurzel bekämpfen will, gibt es nur zwei Lösungen: Erstens Erwerbsarbeit für die Eltern und zweitens bessere Bildung beziehungsweise mehr Infrastruktur für die Kinder. Und da sind wir wieder bei den Zahlen beziehungsweise beim Geld. Öffentliche Mittel sollten in erster Linie in staatliche Leistungen investiert werden, die gezielt bei den Kindern ankommen. Dazu gehören auch Einmalleistungen des Arbeitslosengeldes II wie das jüngst beschlossene Schulbedarfspaket. Lernmittelfreiheit, kostenfreie Frühstücksangebote und ein gesundes Mittagessen in Kindertagesstätten und Schulen sind weitere dringend notwendige Bausteine. Die massiven Investitionen in die Kinderbetreuung, der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab 2013 sowie das Ganztagsschulprogramm gehören ebenfalls dazu.

In Abwandlung eines Satzes von Hannah Arendt gilt für mich daher: Politik ist angewandte Liebe zu den Menschen. Das zeigt sich zuerst und vor allem an unserer Liebe zu Kindern.

aus zeitzeichen – Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 5/09, Seite 21.

zeitzeichen

15.5.09

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