Berlin | Positionen

Bessere Chancen durch individuelle Förderung

Für ein kinderfreundliches Land muss ein Rad ins andere greifen

von Kerstin Griese und Nicolette Kressl

Kinder haben das Recht, unter optimalen Bedingungen aufzuwachsen. Doch trotz eines auch im internationalen Vergleich hohen Mitteleinsatzes schneidet unsere Familienpolitik nicht gut ab. Die Geburtenrate ist niedrig, und Kinder haben ein hohes Armutsrisiko. Bei der Unicef-Studie zur Situation von Kindern in den Industriestaaten aus dem Jahr 2007 belegt Deutschland nur einen beschämenden Platz im Mittelfeld. Was die Wirksamkeit unserer Maßnahmen behindert, ist die noch unterentwickelte Vernetzung und Abgestimmtheit der Politiken für Kinder und Familien. Deutsches Mittelmaß durch Fragmentierung und fehlenden policy mix – so lautet die Diagnose der UNICEF-Studie.

Wollen wir ein kindergerechtes Deutschland schaffen, müssen wir alle Aspekte, die die Lebensbedingungen von Kindern bestimmen, in den Blick nehmen. Kinder brauchen stabile Beziehungen in ihrer Familie, zu Freunden und in der Nachbarschaft; optimale Bildungschancen; Gesundheit, eine sichere Umwelt und Gewaltfreiheit; die Beteiligung an Entscheidungen sowie materielle Sicherheit für sich und ihre Familien.

In einem kindergerechten Deutschland kann jedes Mädchen und jeder Junge seine Potenziale entwickeln und entfalten. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist Chancengleichheit dabei ein zentrales Ziel. Chancen dürfen weder nach dem Wohnort, dem Geldbeutel der Eltern noch nach dem Geschlecht des Kindes verteilt sein.

Armut und soziale Exklusion werden in Deutschland teilweise bereits über mehrere Generationen vererbt. Um dies zu durchbrechen, muss die Familienpolitik zu einem entscheidenden Baustein einer vorsorgenden Sozialpolitik werden. Deswegen ist der Kampf um die Vereinbarkeit von Kind und Beruf so entscheidend, denn die Erwerbstätigkeit der Eltern ist die einzige wirklich nachhaltige Möglichkeit, Kinder vor den vielfältigen Armutsrisiken zu bewahren. Die Bildungs- und damit Lebenschancen von Kindern sind sehr ungleich verteilt. In kaum einem anderen Land entscheidet die soziale Herkunft eines Kindes so sehr über seinen Bildungserfolg wie in Deutschland. Von 100 Akademikerkindern finden 83 den Weg in die Hochschule, von 100 Kindern ohne akademisch gebildete Eltern sind es nur 23 – so die Erhebung des Deutschen Studentenwerks vom Juni 2007.

Damit alle Kinder bessere und gerechte Chancen bekommen, setzen wir auf eine zweite Bildungsrevolution, die bereits im Vorschulischen ansetzt. Die Reformen der siebziger Jahre haben vielen Arbeiterkindern den Hochschulzugang ermöglicht. Das reicht heute nicht mehr aus. Die Chancen werden viel früher verteilt. Deshalb bauen wir die Bildungs- und Betreuungseinrichtungen massiv aus und verbinden dies mit einem Rechtsanspruch. Kindern gute Startbedingungen zu geben, kann in unserer hochentwickelten und wissensbasierten Gesellschaft nicht mehr allein Aufgabe der Eltern sein. Kinder brauchen Förderung und Entwicklungschancen ergänzend zum oder sogar unabhängig vom Elternhaus. Gefragt sind vernetzte Lebenswelten, die einem Kind während seines gesamten Aufwachsens Halt geben und es fördern. »Kommunale Bildungslandschaften« nennt das der aktuelle Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung.

Vernetztes Denken und Handeln für bessere Lebensbedingungen

Individuelle Förderung erfordert Netzwerke, die nicht nur die Bildungschancen eines Kindes berücksichtigen. Ziel für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist ein Gemeinwesen, das seine Kinder fördert, schützt und ernst nimmt. Deshalb ist ein weiterer Ausbau von Kinderbetreuung und Ganztagsschulen genauso wichtig wie mehr Beteiligung, ein kindgerechtes Wohnumfeld und bessere Gesundheitsförderung. Nur im Zusammenspiel von allen kinder- und jugendrelevanten Politikfeldern können wir den Kleinsten in unserer Gesellschaft beste Lebenschancen verschaffen.

Eine bessere Vernetzung der Hilfen für Kinder und Familien – auch über föderale Grenzen hinweg – ist erstrebenswert, weil wir damit gleichzeitig schonend mit den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln umgehen. Eine erfolgreiche Kinder- und Familienpolitik setzt die Koordinierung mit der Steuer-, Wirtschafts-, Bildungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik voraus. Mit der Einführung des Elterngeldes und dem Ausbau der Kinderbetreuung wollen wir junge Menschen zu einem Leben mit Kindern ermutigen. Doch das wird nur funktionieren, wenn auch die wirtschaftlichen Bedingungen für die Familiengründung stimmen. Jungen Akademikerinnen und Akademikern der »Generation Praktikum« fällt die Entscheidung für ein Kind vor dem Hintergrund ihrer oftmals prekären Beschäftigungsverhältnisse schwer. Politik muss hierauf eine Antwort geben.

Auch die Wirtschaft muss ihren Beitrag leisten. Familien brauchen familienfreundliche Arbeitszeitmodelle. Sie dürfen aufgrund rigider Arbeitszeitregelungen nicht in die Mühlen zwischen Anforderungen des Arbeitgebers und Bedürfnissen ihrer Kinder geraten. Die Beispiele von Unternehmen, die sich zu einer familienfreundlichen Unternehmenskultur bekennen, zeigen, dass wirtschaftlicher Erfolg und Unterstützung für Mütter und Väter Hand in Hand gehen.

Elterliche Bildungskompetenz entwickeln

Wer starke Kinder will, muss die Eltern stark machen. Aufgabe einer nachhaltigen und vernetzten Kinder- und Familienpolitik ist auch, die Erziehungsund Bildungskompetenz von Müttern und Vätern zu entwickeln. Und zwar so früh wie möglich, denn wenn ein Kind geboren wird, wollen die meisten Eltern gute Eltern sein.

Einen erfolgreichen Weg geht die Stadt Dormagen mit ihrem sozialdemokratischen Bürgermeister. Nach der Geburt eines Kindes machen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter dort grundsätzlich einen Hausbesuch. Sie überreichen ein Baby-Begrüßungspaket, bieten Hilfe an, nennen Betreuungsangebote, schauen aber auch nach dem Rechten. Auch die Gutverdiener bekommen dort Besuch vom Sozialdienst. Dies ist ein hervorragendes Beispiel für frühe, präventive und diskriminierungsfreie Hilfe. Sie wirkt vorbeugend gegen Kindeswohlgefährdung, ist aber gleichzeitig für alle Eltern eine willkommene Unterstützung.

Erfolgreich arbeiten auch die Eltern-Kind-Zentren in unserem Land. Das Konzept ist einfach und doch revolutionär. Im Mittelpunkt steht das Kind, das voller Potenziale steckt, einzigartig und exzellent ist. Es in seiner Entwicklung zu fördern, daran arbeiten Eltern und Erzieher und Erzieherinnen gemeinsam. Sie gehen gewissermaßen eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft ein. Dabei erhalten auch die Eltern Unterstützung, sie bekommen Tipps für die richtige Ernähung, das tägliche Vorlesen genauso wie für die Erziehung. Sie werden angeleitet, über tägliche Gespräche und gemeinsame Mahlzeiten stabile Beziehungen zu ihren Kindern aufzubauen. Die Eltern nehmen die Hilfen an, weil sie niedrigschwellig sind und unter einem Dach angeboten werden. So entwickeln sich Kindertagesstätten weiter zu Familientreffpunkten. Und Familien werden zu starken Netzwerken für Kinder. Dazu müssen, beginnend in den sozialen Brennpunkten, die Eltern-Kind-Zentren flächendeckend ausgebaut werden.

Die Frauenbewegung hat viel erreicht

Bei der Integration von Kindern setzen wir auf sprachliche Förderung. Immer mehr Kindern – nicht nur welchen mit Migrationshintergrund – fehlen ausreichende Sprachkenntnisse, um in der Schule bestehen zu können. So richtig und wichtig die Vermittlung von Deutschkenntnissen auch ist, so ist sie doch lange nicht ausreichend. Die jugendlichen Migranten der Pariser Vorstädte müssen über keinerlei Sprachdefizite klagen und sind dennoch nicht zufriedenstellend in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft integriert. Grund hierfür ist das Auseinanderfallen der Lebenswelten. Wenn die Innenbereiche deutscher Großstädte überproportional von Migranten bewohnt werden, während die deutschen Mittelschichtfamilien ihr Heil in den grünen Außenbereichen suchen, wird Integration schwierig. Gelingen kann sie nur bei einem abgestimmten Vorgehen von Arbeitsmarkt-, Kinder- und Jugendhilfepolitik sowie einer schlüssigen Stadt-, Verkehrs- und Bildungsplanung.

Renate Schmidt hat mit den »Lokalen Bündnissen für Familien« eine Plattform für mehr Familienfreundlichkeit vor Ort ins Leben gerufen. Und das sehr erfolgreich, denn mittlerweile gibt es über 400 solcher Bündnisse. Vertreterinnen und Vertreter der Politik, der örtlichen Unternehmen, der Schulen und Kitas, des Jugendamts und der Stadtplanung, der Sportvereine und Kirchen und viele mehr ringen gemeinsam um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diese »Lokalen Bündnisse« sind ein hervorragender Ort, um darüber hinaus für vernetzte und bessere Hilfen für Kinder und ihre Familien zu sorgen.

Familienpolitik muss auch Gleichstellungspolitik sein. Die Frauenbewegung hat viel erreicht. Mädchen und junge Frauen sind gerade im Bildungsbereich den Männern häufig überlegen. Aber sobald die Familienphase beginnt, endet für die meisten Frauen die Gleichstellung. Eine kinderfreundlichere Gesellschaft werden wir nur dann werden können, wenn auch die Männer ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Und das wollen die allermeisten auch. Ziel muss die partnerschaftliche Aufgabenteilung sein.

Der Bund kann jetzt gemeinsam mit Ländern und Kommunen die Kinderbetreuung verbessern. Aber was passiert beim Übergang in die Schule? In der letzten Legislaturperiode hat die rot-grüne Regierung den Startschuss für den Ausbau der Ganztagsschulen gegeben. Wenn das Programm 2009 ausläuft, ist es an den Ländern, weiter für ein gutes Angebot an Ganztagsschulen zu sorgen. Bildungslandschaften für Kinder zu schaffen, gelingt also nur im Zusammenspiel aller föderalen Akteure.

Um eine engere Zusammenarbeit und bessere Koordinierung von Bund, Ländern und Gemeinden zu erreichen, wäre ein föderaler Pakt für Kinder und Familien hilfreich. Denn bessere Vernetzung ist der Schlüssel, wenn wir bessere Bedingungen des Aufwachsens erreichen wollen. Das gilt für den Bund, der seine einzelnen Politikbereiche diesem Ziel verschreiben muss. Es gilt für die Kommunen, die in erster Linie gefragt sind, wenn es um starke Netzwerke für Familien geht. Und das gilt für die Zusammenarbeit zwischen den föderalen Ebenen, die nur gemeinsam die große Aufgabe, kinderfreundliche Lebenswelten und Bildungslandschaften für Kinder zu schaffen, anpacken können.

Aus: Matthias Platzeck/Peer Steinbrück/Frank-Walter Steinmeier (Hg.), Auf der Höhe der Zeit: Soziale Demokratie und Fortschritt im 21. Jahrhundert, Berlin: vorwärts buch 2007, Seiten 89–93

3.9.07

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