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Familien- und Bildungspolitik im ökonomischen Kontext

Sozialdemokratische Schwerpunkte: Eine Strategie für Innovation und soziale Gerechtigkeit

Eine Große Koalition bietet für einen begrenzten Zeitraum die Möglichkeit, grundlegende Reformen durchzusetzen und die bisherigen Blockaden durch den Bundesrat aufzulösen. Unser Schwerpunkt muss dabei sein, Teilhabechancen der Menschen zu stärken: beginnend bei besserer und ausgebauter Erziehung, Betreuung und Bildung für die Kleinsten, über eine Qualitätsoffensive, damit unsere Schulen pisafähig werden, besseren Ausbildungschancen für Jugendliche, Fort- und Weiterbildung bis zur Integration der Älteren in die Teilhabe an Arbeit und bürgerschaftlichem Engagement.

In der engen Verzahnung der Politikfelder Familie, Bildung und Wirtschaft liegt die einzig zukunftsfähige Antwort auf die ökonomischen und demografischen Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Unternehmen in Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts stehen. Die wirtschaftliche und demografische Entwicklung wird sowohl eine weiter steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen als auch eine längere Erwerbsbeteiligung der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erfordern. Deshalb gehören die Themen "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" sowie "(Weiter)Bildung – von Anfang an, ein Leben lang" auch ins Zentrum einer umfassenden wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Strategie zur Sicherung des Wohlstands in unserem Land.

In diesen Themen verbinden sich die beiden Pole des sozialdemokratischen Freiheitsverständnisses: Die Vermehrung der Optionen individueller Lebensgestaltung und die Sicherung wirtschaftlicher Unabhängigkeit durch gerechte Teilhabe an Arbeit und Wohlstand. Hier versagt die neoliberal-konservative Politik auf der ganzen Linie: Auf der einen Seite predigt sie einen alles umfassenden ökonomischer Flexibilitäts- und Mobilitätsanspruch gegenüber jedem einzelnen Individuum – und auf der anderen Seite hält sie an biedermeierlicher Familienromantik ohne Bezug zur Lebenswirklichkeit der Mehrheit der Menschen fest. Paul Kirchhof war die Inkarnation dieses Widerspruchs.

Mit Blick auf die nachhaltige Gewährleistung staatlicher Handlungsfähigkeit muss die Haushaltssanierung und der Abbau von Subventionen ein wesentlicher Schwerpunkt zukunftsorientierter Politik sein. Anstelle von Subventionen und Transfers, die einen fehlenden Zugang zu eigenem Markteinkommen kompensieren, müssen aktivierende Leistungen treten, die sich auf die Ermöglichung eines solchen Zugangs bzw. die Ergänzung unzureichender Markteinkommen konzentrieren. Wo der Zugang zu ausreichendem eigenen Erwerbseinkommen zum zentralen Ziel einer sozial ausgerichteten Gesellschafts-(und damit auch Familien-)politik wird, tritt die Bedeutung des Ausbaus von Transferleistungen automatisch hinter Zukunftsinvestitionen in Menschen und Infrastrukturen zurück.

Armut von Kindern und ihren Familien findet sich insbesondere dort, wo den Eltern der Zugang zu ausreichendem eigenem Erwerbseinkommen fehlt – das zeigen alle Statistiken. Wirtschaftlich nachhaltig und sozial gerecht ist daher nur eine Familienpolitik, die Möglichkeiten schafft und Anreize setzt, Familienleben und die Erzielung von Erwerbseinkommen miteinander zu vereinbaren. Hierzu haben wir bereits verschiedene Instrumente entwickelt, die konsequent weiter zu verfolgen sind:

In der Wissensgesellschaft werden mit den Bildungs- die Zukunftschancen verteilt. Die PISA-Studien haben gezeigt: Nirgendwo sonst in den Industrieländern hängen Bildungserfolge so sehr vom sozialen Status der Eltern ab, wie in Deutschland. Dabei entscheidet der Bildungsstand über die Lebenschancen für Menschen. Gezielte frühkindliche Erziehung, Bildung und Betreuung ist daher ein ebenso unverzichtbarer Beitrag einer wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Strategie, die auf Innovation und soziale Gerechtigkeit zielt, wie der Abbau/die Verhinderung zusätzlicher materieller Hürden weiterführender Bildungs- und Qualifizierungsangebote.

Besonders prekär sind die Bildungschancen von jungen Menschen aus Familien mit Migrationshintergrund. Deren Integrationschancen können nur durch eine frühzeitigere und umfassendere Einbeziehung in öffentliche Bildungs- und Betreuungsangebote nachhaltig verbessert werden. Auf die Potenziale dieser hier bei uns lebenden Menschen absichtlich zu verzichten – wie es heute noch vielfach geschieht – ist nicht nur sozial, sondern immer stärker auch ökonomisch unakzeptabel.

Bei ökonomischen Analysen der demografischen Entwicklung steht immer noch die Frage des Arbeitsangebots dominierend im Vordergrund – die Älteren als Konsumentinnen und Konsumenten bleiben weithin unbeachtet. Das mag symptomatisch sein, für eine Industriekultur, deren Manager sich – allem Gerede von Kundenorientierung zum Hohn – wo es nur geht – aus dem Geschäft mit den privaten Kunden zurückziehen. Zukunftstauglich ist das nicht – bereits heute tätigt die Generation 60plus rund ein Drittel der gesamten privaten Konsumausgaben. Die Potenziale seniorengerechter Konsumgüter- und Dienstleistungsangebote sollten daher einerseits mit Blick auf die Chancen des Produktions- und Beschäftigungsstandorts Deutschland stärker in den Blick genommen werden: Der Tourismusbereich ist hier sicher schon ein Vorreiter – in der gezielten Kombination von Kulturangeboten einerseits und Gesundheits-/Wellnessangeboten andererseits liegen aber noch weitere Potenziale. Eine auf die Bedürfnisse von Senioren hin ausgeweitete Angebotspalette im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien (einschließlich Inhalte) nicht nur der verbesserter Teilhabe älterer Menschen am gesellschaftlichen und familiären und Leben ermöglichen, sondern ihnen auch länger ein eigenständiges Leben ermöglichen. Hinsichtlich der Produkt- und Dienstleistungsgestaltung seniorengerechte Finanzdienstleistungsangbote bieten sich Banken und Versicherungen neue Wachstumspotenziale im Privatkundenbereich.

Natürlich spielen die Älteren auch für unser Zusammenleben und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft eine zunehmend wichtige Rolle. Ohne den Einsatz der Großeltern würde manche junge Familie ihren Betreuungsabedarf nicht abdecken können. Ältere und Kinder zusammen zu bringen, ist bereits Bestandteil vieler von uns gestarteter Projekte, die einer politischen und öffentlichkeitswirksamen Unterstützung und Ausweitung bedürfen. Dass diese Projekte oft auch der Not kommunaler Kassen geschuldet sind spricht nicht gegen sie. Schließlich geben Sie den Älteren neue Aufgaben und einen Platz in der Gesellschaft und erkennen ihr Potenzial für das bürgerschaftliche Engagement an.

Eine neue integrierte Bildungs- und Wirtschaftspolitik, die die Befähigung von Menschen zur teilhabe zum Ziel hat, muss noch stärker mit der Stadtentwicklungs- und der Kommunalpolitik verzahnt werden. Die in den Städten vorhandenen Missstände, die zu einer Ausgrenzung ganzer Stadtteile und der darin lebenden Menschen geführt haben, sind Anforderung an die Politik. In vielen Städten bilden sich Parallelgesellschaften heraus, die sich aus der sozialen Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen ergeben und sich schon lange nicht nur aus Migrantenfamilien bilden. Dabei ist besonders in diesen Milieus gut zu beobachten, dass eine Erhöhung von sozialen Transferleistungen hier nicht zur Integration, sondern eher zur Desintegration führt. Eine aktivierende Sozialpolitik muss diesen Teil unserer Gesellschaft wieder aktiv einbeziehen und durch Bildung, Qualifikation und die richtige Mischung aus Fördern und Fordern in den Arbeitsmarkt integrieren. Hier gehen Lebenschancen verloren – auch ökonomische Chancen für uns alle. Hier muss soziale Sicherung mehr sein als Lebensunterhalt, sondern Befähigung zu Teilhabe und Emanzipation.

In diesem Sinne muss es Aufgabe der Sozialdemokratie in einer Großen Koalition sein, bildungs-, familien-, sozial- und wirtschaftspolitische Ansätze in allen Ressorts zu verankern. Wir können dann erfolgreich sein, wenn wir an den konkreten Problemen der Menschen ansetzen und neue Lösungen finden, die soziale Sicherheit mit neuen Chancen verbindet, die Aufstieg ermöglicht und niemanden ausgrenzt oder vergisst. Verteilungsgerechtigkeit und Chancengerechtigkeit gehören zusammen. Bildung ist für die Sozialdemokratie dabei der zentrale Schlüssel für eine zukunftsweisende und nachhaltige Politik.

27.10.05

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