Berlin | Reden

„Vermittlung in psychosoziale Beratungsstellen“

Kerstin Grieses Rede am 18. Dezember 2008 in der ersten Lesung über die Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes

Kerstin Griese (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein schwieriges Thema, das wir hier diskutieren, eine Gewissensfrage. Die Frage, wie wir Frauen in der schwierigsten Konfliktsituation in einer fortgeschrittenen Schwangerschaft sinnvoll helfen können, hat mich sehr bewegt, und - ich sage es offen - ich habe mich schwer getan, dazu eine Position zu finden. Nach vielen Gesprächen mit Betroffenen, mit Verbänden wie der Lebenshilfe und auch mit Beratungsstellen habe ich mich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen entschlossen, einen Gesetzentwurf zu formulieren. Wir wollen die Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes auf einen zentralen Punkt konzentrieren: auf die Vermittlung in psychosoziale Beratungsstellen.

Um immer wieder geäußerten Vorwürfen direkt vorzubeugen, will ich ausdrücklich sagen: Niemand will den Paragraf 218 ändern. Wir alle sind uns einig, dass keine Frau leichtfertig abtreibt. Im Gegenteil, das ist eine schwerwiegende Entscheidung mit vielen Nachwirkungen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind uns sicherlich auch alle darin einig: Werdendes Leben kann nur mit der Mutter, nicht gegen sie geschützt werden.

Ich warne davor, aus dieser Debatte einen Kulturkampf zu machen. Es geht nicht um die Änderung der bisherigen Indikationsregelungen beim Schwangerschaftsabbruch, sondern es geht in unserem Gesetzentwurf allein um eine bessere Beratung in der fortgeschrittenen Schwangerschaft, in einer Phase, in der sich die Frau eindeutig für das Kind entschieden hat.

Ich will die drei wichtigsten Argumente für unseren Gesetzentwurf nennen:

Erstens. Wir haben in Deutschland die Regelung, dass bis zur zwölften Schwangerschaftswoche Abtreibung nach Pflichtberatung und nach drei Tagen Bedenkzeit straffrei ist. Wir werden demnächst nach dem Gendiagnostikgesetz die Regelung haben, dass vor und nach gendiagnostischen Untersuchungen Beratung erfolgt. Das ist gut und richtig. Aber im schwierigsten aller Fälle, im Schwangerschaftskonflikt nach der 13. Woche bis hin zur 22. oder 23. Woche, wenn das Kind schon lebensfähig ist, in der Phase, in der die Entscheidung für das Kind schon gefallen ist - es geht hier um Wunschkinder -, können wir uns nicht sicher sein, dass die Frau nach einer meist schockierenden Diagnose eine psychosoziale Beratung bekommt, und das wollen wir ändern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zum Beispiel führt auch die große Ultraschalluntersuchung zu der Diagnose einer eventuellen Behinderung. Diese Untersuchung ist vom Gendiagnostikgesetz nicht erfasst. Da gibt es eine Lücke. Warum wir diese Lücke nicht auch gesetzlich schließen sollen, leuchtet mir nicht ein. Das ist widersinnig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es geht zweitens darum, wie Frauen oder Paare damit umgehen, wenn sie die Diagnose bekommen, dass ihr Kind mit der Wahrscheinlichkeit eins zu hundert, eins zu zweihundert oder eins zu dreihundert behindert sein könnte. Wie gehen wir mit dem technischen Fortschritt um? Müssen wir alles wissen? Ich teile ausdrücklich all das, was zum Recht auf Nichtwissen und zu mehr Beratung vor der Diagnostik gesagt wurde. Aber - das weiß ich aus vielen Gesprächen - es gibt immer wieder den Fall, dass Ärzte bei der Diagnose einer eventuellen Behinderung sehr schnell zum Abbruch raten,

(Volker Kauder (CDU/CSU): So ist es! - Elke Ferner (SPD): Rechtswidriges Verhalten!)

sei es offensichtlich - ich kenne Fälle, wo Ärzte gesagt haben, das lohne sich nicht mehr -, sei es unterschwellig, sei es aus Angst vor Haftungsklagen, was ich übrigens besonders perfide finde, sei es aus mangelnder Sensibilität, sei es aus reiner Konzentration auf die medizinisch-technische Seite, was ja beruflich bedingt ist, oder aus Hilflosigkeit. Ich mache diesen Vorwurf nicht allen Ärztinnen oder Ärzten,

(Christel Humme (SPD): Na also!)

aber ich bin nach reiflicher Überlegung mit den Kolleginnen und Kollegen, die mit mir diesen Antrag stellen, zu der Überzeugung gekommen, dass genau hier die Schwachstelle ist und dass wir genau hier etwas ändern müssen. Die Frauen sollen also nicht mit der medizinischen Diagnose alleingelassen werden, sondern auch eine psychosoziale Beratung bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb wird in unserem Gesetzentwurf der Arzt oder die Ärztin - ich sage ausdrücklich: „der Arzt oder die Ärztin“, nicht: „die Frau“ - zu ergebnisoffener Beratung verpflichtet. Das ist uns wichtig, damit es nicht zu einem voreiligen Automatismus „Behinderung gleich Abtreibung“ kommt. Der Arzt oder die Ärztin werden also verpflichtet, in eine psychosoziale Beratung zu vermitteln. Hier wird keinerlei Zwang ausgeübt. Diese Beratung kann auch abgelehnt werden. Hier geht es um Hilfe und Unterstützung.

Ein drittes wichtiges Argument unseres Antrages: Wir wollen, dass die Ärzte Kontakte zu Selbsthilfegruppen und Behindertenverbänden vermitteln. Ein Gesetzgeber kann natürlich die gesellschaftliche Debatte beeinflussen, indem er in Gesetzen Werte und Normen setzt. Deshalb sagen wir auch hier: Behindertes Leben ist gelingendes und erfülltes Leben. Das können wir auch mit gesetzlichen Normen deutlich machen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Mich haben die Zuschriften von Eltern behinderter Kinder sehr berührt, die mir erzählt haben, welch ein Schatz dieses Kind für ihr Leben ist, die aber auch davon berichtet haben, dass sie darauf angesprochen werden, ob das denn sein musste,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Genau so ist es!)

ob man das heute nicht hätte verhindern können. Das zeigt einfach, dass es den genannten Automatismus gibt. Auch wenn er rechtlich nicht in Ordnung ist - es gibt ihn. Das wollen wir ändern.

(Zuruf der Abg. Christel Humme (SPD))

Unser Gruppenantrag formuliert die Vermittlung in psychosoziale Beratung noch deutlicher und verbindlicher als Ihr Antrag, Herr Kollege Singhammer. Unser Gruppenantrag geht auch über das hinaus, was Sie, Frau Kollegin Humme, fordern: Er sieht eben eine gesetzliche Regelung vor und beschränkt sich nicht auf Appelle. Wir wollen keine statistische Erfassung, wir wollen keine statistisch feine Aufschlüsselung der Abtreibungsgründe. Hier sehen wir die Gefahr, dass die Anonymität der Frauen nicht mehr gewahrt würde. Vielmehr konzentrieren wir uns tatsächlich auf Hilfen und Unterstützung.

Ich komme zum Schluss. Ich werbe für diesen Vorschlag, weil ich möchte, dass wir Frauen in der schwierigen Konfliktsituation, ob eventuell eine Spätabtreibung vorgenommen werden soll, direkt Hilfe und Unterstützung zukommen lassen. Ich werbe dafür, damit dieses Haus ein eindeutiges Zeichen setzt, dass Behinderung nicht der Grund für eine Abtreibung sein darf.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Zuruf der Abg. Christel Humme (SPD))

Es ist eine Frage, mit der sich - das weiß ich - viele schwertun. Ich glaube, es ist eine ethische Frage, über die nicht anhand von Partei- oder Fraktionsgrenzen entschieden werden darf. Jeder Einzelne von uns wird hier eine Entscheidung treffen müssen. Wir werden im März dazu eine Anhörung im Familienausschuss durchführen und im April hier wieder darüber beraten. Ich hoffe, dass wir über all die wichtigen Appelle hinaus - ich sage ausdrücklich, dass ich die alle unterstütze - auch eindeutige gesetzliche Zeichen setzen. Diese sind nötig, damit den betroffenen Frauen geholfen werden kann.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

18.12.08

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