Berlin | Reden

„Die Ärzte haben Pflichten, die schwangeren Frauen haben Rechte“

Kerstin Grieses Rede am 13. Mai 2009 in der abschließenden Lesung über die Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes

Kerstin Griese (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen und wir sollten uns in dieser Debatte darauf konzentrieren, wie wir Frauen in einer schwierigen Konfliktsituation am besten helfen können, und nicht neue Ängste schüren oder Dinge unterstellen, die nicht stimmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Mittelpunkt unserer Bemühungen – dafür bedanke ich mich sehr herzlich bei allen Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir in den letzten Wochen und Monaten viele sehr intensive Gespräche geführt haben – steht, wie wir Frauen helfen können.

Ich möchte die Situation, um die es hier geht, noch einmal vor Augen führen: Wir sprechen über Schwangerschaften nach der zwölften Woche, also über Schwangerschaften, bei denen die Entscheidung für das Kind schon gefallen ist, aber im Zuge einer Untersuchung eine eventuelle Behinderung des Kindes festgestellt wurde. Das ist eine schwierige Situation: Die werdenden Eltern freuen sich auf das Wunschkind und müssen nun damit umgehen, dass das Kind behindert, eventuell sogar schwerbehindert sein kann; vielleicht lautet die Diagnose sogar: nicht lebensfähig. In all diesen Fällen müssen wir dafür sorgen, dass die Betroffenen – die Schwangeren, aber auch die Eltern insgesamt – die bestmögliche Unterstützung erhalten.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Richtig!)

Unsere Gruppe, die ja erst einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht hat, hat sich nun auf einen neuen gruppenübergreifenden Gesetzentwurf verständigt, weil wir darin unsere wichtigsten Punkte wiederfinden: eine bessere Beratung und Unterstützung der betroffenen Frauen und eine Bedenkzeit. Ziel dieses gemeinsamen Gesetzentwurfes ist es, dass die betroffenen Frauen eine Entscheidung fällen können, mit der sie später leben können. Dafür brauchen sie Zeit und Ruhe – ohne Druck – und dafür brauchen sie eine gute psychosoziale Beratung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wichtig ist in unserem Gesetzentwurf: Die Ärztinnen und Ärzte werden verpflichtet, die Frauen ergebnisoffen zu beraten, sie in eine psychosoziale Beratung zu vermitteln und zu Selbsthilfegruppen oder Eltern behinderter Kinder. Die Ärztinnen und Ärzte verpflichten wir dazu, die Frauen können aber – das ist wichtig – diese Beratung ablehnen. Die Ärzte haben also Pflichten, die schwangeren Frauen haben Rechte.

Gerade in dieser schwierigen Situation, über die wir hier sprechen, ist es bislang nicht gesichert, dass Frauen eine psychosoziale Beratung wahrnehmen können. Eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung besagt, dass nur ein Fünftel der Frauen, die mit einem pathologischen Befund konfrontiert werden, also mit einer eventuellen Behinderung ihres Kindes, beraten werden. Auch das haben wir in der Anhörung gehört, die übrigens sehr deutlich gezeigt hat, dass hier Änderungsbedarf besteht.

Unser zentrales Anliegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist, den schleichenden Automatismus zu durchbrechen, der die Diagnose einer eventuellen Behinderung sehr schnell zu einer Empfehlung zum Abbruch der Schwangerschaft werden lässt. Damit unterstelle ich ausdrücklich nicht allen Ärztinnen und Ärzten, dass sie so beraten. Aber wir wissen aus Studien und Fachgesprächen, aus der Anhörung im Bundestag und auch aus Berichten von Betroffenen, dass diese Tendenz vorhanden ist.

Uns hat bewegt, zu erfahren, dass europaweit – für Deutschland gibt es keine genauen Zahlen – über 90 Prozent der Kinder mit Down-Syndrom abgetrieben werden. Wir tasten mit unserem Gesetzentwurf die Möglichkeiten der medizinischen Indikation und erst recht nicht den § 218 StGB – der bleibt so erhalten, wie er ist – an.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber wir wollen sicherstellen, dass eine solche Diagnose nicht automatisch bedeutet, dass Kinder mit Down-Syndrom gar nicht mehr auf die Welt kommen. Ich bin übrigens davon überzeugt, dass es nicht darum geht, quantitativ die Zahl der Spätabbrüche zu senken – man kann und soll nicht meinen, dies gesetzlich regeln zu können –, sondern es geht um bessere Beratung und darum, eine gute Entscheidung fällen zu können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Punkt ist mir sehr wichtig: Wir sind uns in allen Forderungen einig, eine bessere Beratung vor der Pränataldiagnostik zu ermöglichen. Darüber haben wir oft gesprochen. Hier kommt es darauf an, dass Frauen wissen, was diese Untersuchungen bedeuten, dass sie gut informiert sind. Dies unterstützen wir. Ich weise darauf hin: In diesem Gesetz geht es um Schwangerschaftskonflikte. Deshalb muss man gerade für die schwierige Situation, wenn eine solche Diagnose vorliegt, besondere Vorkehrungen treffen. Die Beratung davor ist natürlich genauso wichtig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind uns sicherlich alle einig, dass die Bedingungen für das Leben mit behinderten Kindern, für eine echte Inklusion von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft verbessert werden müssen. Deshalb empfiehlt unsere Gruppe, dem ursprünglichen Entschließungsantrag von Christel Humme und anderen zuzustimmen, in dem viele richtige untergesetzliche Forderungen aufgeführt sind.

Die Verbesserung der Lebenssituation der Menschen mit Behinderungen gehört dazu. Dazu gehört übrigens auch die Verbesserung der medizinischen Versorgung. Ich bin sehr froh, dass im Bundesgesundheitsministerium zurzeit geplant ist, behinderten Menschen mit Brillen und verschreibungsfreien Arzneimitteln weiterzuhelfen. Das wäre ein wichtiger Schritt. Hier bitte ich um Unterstützung aus allen Fraktionen.

Ich will mich ganz herzlich bei den vielen Verbänden aus dem Behindertenbereich, bei den Wohlfahrtsorganisationen, den Beratungsstellen, den Ärztinnen und Ärzten, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die uns geholfen haben, bedanken.

Wir unterstützen diesen Gesetzentwurf. Dieser unterscheidet sich von dem Gesetzentwurf, den die Kollegin Humme vorgestellt hat, deutlich: Erstens. In unserem Gesetzentwurf wird klarer und eindeutiger geregelt, dass die Ärzte verpflichtet sind, zu beraten und eine psychosoziale Beratung zu vermitteln, und zwar im Einvernehmen mit der Frau. Zweitens. Die drei Tage Bedenkzeit sind uns wichtig. Sie gilt nicht, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht. Dazu gehört physische und psychische Gefahr. Entgegen anderen Pressemeldungen von heute gilt diese Frist von drei Tagen natürlich nicht, wenn die Gesundheit der Frau gefährdet wäre. Diese drei Tage sind ein Schutz für die Frauen. Die Formulierung „drei Tage“ ist nicht so ein ungenauer Rechtsbegriff wie die Formulierung „ausreichende Bedenkzeit“. Diese Bedenkzeit von drei Tagen ist uns wichtig. Sie bedeutet Rechtssicherheit für die Frau und ist wichtig, um eine Entscheidung fällen zu können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir empfehlen, dem zweiten Teil des Gesetzentwurfs, dem kleineren Teil, zur statistischen Erfassung nicht zuzustimmen, denn hier geht es nicht um eine Verbesserung der Hilfen für die Frauen, sondern nur um eine genauere statistische Erfassung. Damit ist nicht den Frauen, sondern nur der Statistik geholfen. Ich glaube, dass der wichtigere, große Teil des Gesetzentwurfs eine Mehrheit im Parlament finden kann. Ich werbe deshalb dafür und bitte um Unterstützung, und zwar aus drei Gründen: erstens damit wir sicherstellen, dass Frauen psychosoziale Beratung und Hilfe in dieser schwierigen Situation bekommen, zweitens damit sie Zeit und Unterstützung zur Entscheidungsfindung haben und drittens damit die Gesellschaft und wir alle daran erinnert werden, dass wir mehr tun müssen, damit behindertes Leben gelingendes Leben ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

13.5.08

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