Berlin | Reden

„In Verantwortung vor unserer Geschichte jeder Diskriminierung der Sinti und Roma entgegentreten“

Kerstin Grieses Rede am 24. März 2011 in der ersten Lesung des Entschließungsantrages „Für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa“

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns alle hat die Rede von Zoni Weisz am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, am 27. Januar, hier in diesem Haus sehr beeindruckt und betroffen gemacht. Er hat davon berichtet, wie er als siebenjähriger Junge seine Familie verloren hat, die in den Zug nach Auschwitz getrieben worden war. Meine beiden Vorredner haben schon gesagt, dass es das erste Mal war, dass ein Vertreter der Opfergruppe der Sinti und Roma an diesem Gedenktag hier gesprochen hat und damit ein deutliches Zeichen gesetzt hat, dass wir an diese viel zu lange vergessene Opfergruppe, an die vielen Sinti und Roma, die in ganzen Familien in die Lager der Nazis eingeliefert worden sind, endlich mehr und auch würdig erinnern müssen.

Ich habe oft mit Menschen gesprochen, die die KZ überlebt haben. Sie haben gesagt, dass sie zum ersten Mal Kinder in den Lagern gesehen haben, als die Sinti und Roma dorthin verschleppt worden waren. Hunderttausende wurden ermordet, wurden entrechtet und wurden ihres kulturellen Erbes beraubt. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir in Verantwortung vor unserer Geschichte jeder Diskriminierung der heute in Deutschland und in Europa lebenden Sinti und Roma entgegentreten, und zwar nicht nur an Gedenktagen und in Erinnerungsreden, sondern auch in unserer alltäglichen Politik.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Was uns bei der Rede von Zoni Weisz am 27. Januar, glaube ich, alle besonders betroffen gemacht hat, waren seine historischen und aktuellen Bezüge: der Verweis auf die jahrhundertelange Tradition der Ausgrenzung von Sinti und Roma, aber eben auch der Verweis auf die Kontinuitäten nach 1945, als bei den Behörden weiterhin mit den Akten der Nazis gearbeitet wurde, wenn es um Sinti und Roma ging. Er hat uns Beispiele vor Augen geführt, wie heute in Rumänien und Bulgarien Roma diskriminiert werden, wie in Ungarn Rechtsextremisten Juden, Sinti und Roma überfallen.

Wir haben es eben schon gehört: Mit etwa 12 Millionen Menschen sind die Roma die größte Minderheit in Europa. Das Europäische Parlament hat schon 2008 beschlossen, eine europäische Strategie für die Roma zu entwickeln. Wir erwarten dafür in den nächsten Wochen einen neuen EU-Rahmen. Wir setzen uns dafür ein – ich will das ausdrücklich unterstützen –, dass die Anstrengungen der EU verstärkt werden. Noch mehr setzen wir uns dafür ein, dass sich auch die Mitgliedstaaten daran halten. Auf europäischer Ebene sind hierzu schon einige gute Beschlüsse gefasst worden.

Sie erinnern sich sicherlich daran, dass die EU-Justizkommissarin Frau Reding im letzten September den französischen Präsidenten wegen der Gruppenabschiebung von Roma aus Frankreich scharf kritisieren musste und eine Klage der EU-Kommission wegen Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft oder Rasse angedroht hat. Die EU hat hierzu also schon eine sehr eindeutige Position.

Wir begrüßen es sehr, dass sich die ungarische Ratspräsidentschaft vorgenommen hat, bald, noch in den nächsten Wochen, die Anstrengungen auf europäischer Ebene zur Integration der Roma zu verstärken. Dies soll auch Teil der Strategie "Europa 2020" werden. Denn nachhaltiges Wachstum heißt auch, dass man alle Bevölkerungsgruppen teilhaben lässt: an Bildung, an Gesundheit, an Integration und auch an guten Wohnmöglichkeiten. Wir erwarten, dass gerade zu diesen Themen, zu Bildung, Gesundheit und Wohnen, in der EU-Strategie deutliche Worte gefunden werden. Dazu muss auch gehören, dass die Sinti und Roma an der Entwicklung dieser Strategie von Anfang an beteiligt werden und dass transparent überprüft wird, welche Fortschritte es gibt.

Es ist in dieser Debatte schon zu Recht gesagt worden: Wir schauen nicht nur nach Europa, sondern auch darauf, was bei uns los ist. Es gibt noch immer offene und subtile Diskriminierung. In einer aktuellen Studie mit dem Titel "Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung" wurde untersucht, inwieweit Menschen, die eigentlich, rein rechtlich, gleichberechtigt sind, diskriminiert werden und inwieweit in ihnen andere oder Fremde gesehen werden. Das Erschreckende ist, dass dabei herausgekommen ist, dass Sinti und Roma in der Unbeliebtheitsskala mit 79 Prozent Spitzenreiter im Spektrum der Menschenfeindlichkeit waren. Es wurden viele Beispiele gefunden – in Aschermittwochsreden, bei der Arbeitssuche, bei der Wohnungssuche und im öffentlichen Leben –, die belegen, dass Sinti und Roma diskriminiert werden.

Auch dies ist schon erwähnt worden: Ein besonderes Problem ist die Abschiebung von Roma aus Deutschland in den Kosovo, weil sie dort häufig diskriminiert werden, keine Gesundheits- und Sozialleistungen bekommen und keine Chance auf Bildung und Arbeit erhalten. Das ist besonders dann problematisch, wenn es sich um Familien mit Kindern handelt, die entweder hier geboren oder aufgewachsen sind, oder wenn es sich um alte, pflegebedürftige oder traumatisierte Menschen handelt. Wir wissen aus Berichten von Vertretern internationaler Organisationen und deutscher Sozialverbände, die vor einem Jahr mit einer Delegation im Kosovo waren, dass abgeschobene Familien von Roma dort auch direkte Gewalt erlebt haben.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Kinder haben in der Schule keinen Unterricht bekommen!)

Deshalb appelliere ich mit Nachdruck an die Innenminister aller Länder, die Ermessensspielräume in Einzelfallprüfungen großzügiger zu nutzen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir vonseiten der SPD-Fraktion sind der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sehr dankbar für die Initiative zu diesem Antrag; streckenweise haben wir sogar schon ein bisschen gemeinsam daran gearbeitet. Auch nach Ihrer Rede, Kollege Heinrich, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir es in den Ausschussberatungen schaffen können, einen gemeinsamen Antrag zu erarbeiten. Wir brauchen eine Positionierung, die im Deutschen Bundestag eine Mehrheit findet, damit wir aus der Rede von Zoni Weisz vom 27. Januar dieses Jahres Lehren ziehen und real und konkret etwas für die Sinti und Roma erreichen können.

Wir sollten den Appell, dass ein Volk, das über Jahrhunderte diskriminiert und verfolgt worden ist, nun eine bessere Zukunft braucht, wirklich ernst nehmen. Deshalb mein Appell gerade an die Koalitionsfraktionen: Lassen Sie uns versuchen, einen gemeinsamen Beschluss des Deutschen Bundestages zustande zu bringen, in dem die Grundüberzeugung zum Ausdruck kommt, dass wir mehr tun müssen, um der Diskriminierung von Sinti und Roma bei uns und in Europa entgegenzuwirken und das Problem der menschlichen Schicksale, die bei einer Abschiebung drohen, so zu lösen, dass wir unserem Anspruch an ein humanes Miteinander in Europa gerecht werden!

Heute Morgen ist schon viel über Europa diskutiert worden. Zu einem Europa der Zukunft und zu einer Strategie für ein Europa 2020 gehört neben der wirtschaftlichen Gemeinschaft auch eine Gemeinschaft sozialer, humanitärer und demokratischer Standards, in der Minderheiten gewürdigt werden und bessere Chancen bekommen. Deshalb meine Bitte – die Sachlichkeit der Debatte, aber auch die Gemeinsamkeit, mit der wir uns auf die Rede vom 27. Januar dieses Jahres beziehen, stimmen mich ein wenig hoffnungsfroh –: Lassen Sie uns real etwas zur Verbesserung der Situation der Menschen unternehmen!

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

24.3.11

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