Berlin | Reden

„Fluchtursachen und nicht die Flüchtlinge bekämpfen“

Kerstin Grieses Rede am 13. April 2011 in der Aktuellen Stunde zur Aufnahme von vom UNHCR anerkannten Flüchtlingen aus Libyen in Deutschland

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Uhl, ich bin schon ziemlich entsetzt, welche Bilder Sie malen und welches Bild Sie von Menschen haben, die auf ihrer Flucht und auch vorher schon Schlimmes erlebt haben. Wir sollten uns doch wohl einig sein, dass wir hier die Fluchtursachen und nicht die Flüchtlinge bekämpfen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit dieser Vereinfachung, bei der Sie alles durcheinandergeworfen haben, kommen wir, glaube ich, nicht weiter. Sie haben – auch der Bundesinnenminister hat das am Montag im Kreis der europäischen Innenminister getan – der Idee eine Absage erteilt, in Europa gemeinsam Verantwortung für Flüchtlinge zu übernehmen. Wir erleben gerade, wie im nordafrikanischen Raum viele junge Menschen auf die Straße gehen, mutig für Freiheit und Menschenrechte demonstrieren und, wie sie selber sagen, die Mauer der Angst durchbrechen. Sie demonstrieren natürlich für Menschenrechte, aber auch für eine gute soziale und wirtschaftliche Entwicklung ihrer Länder.

Es gibt einige Tausend, die aus ihren Ländern fliehen, sei es, weil es Bürgerkriegsflüchtlinge sind, wie aus Libyen, sei es, weil es Flüchtlinge sind, besonders aus Eritrea und Somalia, die von Gaddafi äußerst schlimm behandelt wurden. Es handelt sich aber auch um Leute, die aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen fliehen. Auch das gibt es natürlich. Die werden nicht alle einen Asylantrag stellen. Aber das heißt doch nicht, dass man sich nicht um sie kümmern soll.

Die Fluchtursachen zu bekämpfen, heißt doch nicht, das andere – nämlich sich anständig um die Flüchtlinge zu kümmern – sein zu lassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke auch, dass wir für viele dieser Flüchtlinge gar keine Alphabetisierungsmaßnahmen brauchen; denn sie sind sehr gut ausgebildet. In diesen Ländern sind 90 Prozent der 20- bis 30-Jährigen sehr gut ausgebildet und arbeitslos. Sie suchen natürlich nach ganz anderen Dingen, zum Beispiel nach Entwicklung. Dabei nehmen sie es auf sich, über das Mittelmeer zu fahren, wobei schon Hunderte zu Tode gekommen sind. Deshalb sollte es uns auch aus humanitären Gründen beschäftigen, wie wir mit dieser Situation umgehen.

Ich glaube, deshalb sind eine differenzierte Betrachtung der Situation, eine Unterstützung der Demokratiebewegung in Nordafrika und natürlich auch humanitäre Hilfe wichtig. Deswegen muss die europäische Politik gegenüber den arabischen Nachbarn davon geprägt sein, dass wir beim Aufbau der Demokratie mit ihnen zusammenarbeiten und dass wir die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen verbessern. Dazu gehört aber eben, dass wir ein offenes Europa brauchen und nicht neue Mauern bauen dürfen.

Die SPD hat schon sehr früh sehr deutlich gesagt: Der demokratische Aufbruch in Nordafrika und die Menschen dort brauchen unsere Unterstützung. Wir haben eine Art Marshallplan für die arabische Welt vorgeschlagen. Es geht um eine umfassende Förderung von Demokratisierung, Modernisierung und wirtschaftlicher Entwicklung. Die Stiftung Wissenschaft und Politik hat einen Pakt für Arbeit, Ausbildung und Energie vorgeschlagen. Ich denke, es geht tatsächlich darum, die Fluchtursachen und nicht die Flüchtlinge selbst zu bekämpfen. Deshalb brauchen wir eine neue Flüchtlings- und Migrationspolitik, um gerade den Menschen zu helfen, die sich dort auf den Weg machen.

Es ist allerdings reiner Populismus – das haben wir heute wieder gehört; aus den Reihen der CSU haben wir das öfter gehört –, dass Sie neue Mauern und neue Grenzanlagen aufbauen wollen. Abgesehen davon, dass es praktisch gar nicht geht, ist das reiner Populismus, mit dem Sie den Stammtisch bedient haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Wer hat das denn gesagt? Niemand!)

– Sie haben angekündigt, dass Sie wieder Grenzkontrollen einführen wollen. Sie haben dann zwar gesagt, das ginge eigentlich doch nicht, aber wegen der Wirkung haben Sie es erst einmal angekündigt.

(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Wer hat was von Grenzen schließen gesagt? Behaupten Sie keinen Unsinn!)

Deshalb sage ich noch einmal deutlich: Unsere Antwort auf die Flüchtlinge aus Nordafrika darf keine neue Mauer sein, sondern muss eine gemeinsame europäische Lösung für Hilfen und für den Aufbau der Demokratie in Nordafrika sein.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die europäische Nachbarschaftspolitik muss sich zum Ziel setzen, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Bürgergesellschaft in den Ländern Nordafrikas zu fördern. Dazu gehört eben auch eine gleichmäßige und solidarische Verteilung innerhalb der Europäischen Union. Auf der einen Seite müssen wir den Menschen ein Angebot machen, damit sie nicht fliehen wollen oder müssen – auch das gibt es ja –, sondern damit sie in ihren Ländern demokratische Strukturen aufbauen können. Auf der anderen Seite müssen wir aber eine faire innereuropäische Teilung der Verantwortung für die Flüchtlinge ermöglichen, die sich in Europa aufhalten. Ja, es geht auch um Quoten für die Verteilung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Daneben brauchen wir Resettlement-Programme für Flüchtlingsgruppen aus Nordafrika, damit hilfesuchende Menschen aus einem Staat, in dem sie Schutz gesucht haben, auch in einen anderen transferiert werden können, der ihrer Aufnahme als Flüchtlinge zustimmt und in dem sie sich dann zeitweise oder dauerhaft niederlassen können. Damit können übrigens auch illegale Einwanderung und Schlepper verhindert werden. Die Situation, in der sich diese Menschen befinden, ist häufig lebensgefährlich.

Die Europäische Union braucht aber nicht nur eine bessere und gerechte Verteilung von Flüchtlingen, sondern sie braucht auch gemeinsame Schutzstandards. Auch das ist mir ganz wichtig; denn wir haben ja zuletzt anhand der katastrophalen Situation für Asylbewerber in Griechenland oder auch anhand der Situation in Italien, wo es keinerlei soziale Versorgung gibt, gesehen, dass die Schutzstandards nicht angeglichen sind. Auch das ist eine Aufgabe der Europäischen Union.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen ein offenes Europa, eine Partnerschaft mit der Region Nordafrika, die Unterstützung von Demokratie und Menschenrechten und die Unterstützung beim Austausch besonders von Bildung und Arbeit. Dafür sollte sich Europa einsetzen. Ich denke, das ist allemal besser, als neue Mauern zu bauen und sich politisch abzuschotten.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Durch Wiederholung wird es nicht richtiger!)

13.4.11

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