Berlin | Reden

„Was hält die Gesellschaft zusammen?“

Kerstin Grieses Rede am 7. September 2006 in der Haushaltsdebatte

Kerstin Griese (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zum Abschluss unserer Debatte etwas dazu sagen, was der rote Faden unserer Politik für Kinder und Jugendliche, für Familien, für die Gleichstellung von Frauen und Männern, für die Solidarität der Generationen und für die Unterstützung des zivilgesellschaftlichen Engagements ist. Uns geht es um den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Es geht um den Einsatz füreinander und um mehr und bessere Chancen von Anfang an. Deshalb begrüße ich es wie schon meine Vorredner, dass dieser wichtige Haushaltstitel gestärkt wird.

Es geht uns Sozialdemokraten – ich glaube, das können Sie alle hier teilen – um die wichtige Frage: Was hält die Gesellschaft zusammen? Was stärkt die Menschen, damit sie sich füreinander und miteinander engagieren, sei es in der Familie, im Stadtteil, in der Schule, in der Ausbildung, im Arbeitsleben oder zwischen den Generationen? Uns geht es – dafür brauchen wir keine Bücher, wie sie heute erscheinen – nicht darum, jemandem einen Lebensentwurf aufzuzwingen.

(Otto Fricke (FDP): Gut!)

Es geht uns darum, Freiheit und Gerechtigkeit – das gehört immer zusammen – herzustellen, damit ein solidarisches Zusammenleben möglich ist, und es geht dabei um die Verantwortung füreinander.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Es geht darum, dass wir Menschen stärken, damit sie nicht wegsehen, wenn Kinder schlecht behandelt werden oder wenn Rechtsextremisten jemanden anpöbeln.

Ganz besonders sind diese großen Werte, über die wir hier reden, gefragt, wenn es um die Schwächsten in der Gesellschaft geht, nämlich die Kinder, deren Chancen in Deutschland immer noch viel zu sehr davon abhängen, welche und ob überhaupt Bücher im Regal der Eltern stehen und in welchem Stadtteil sie aufwachsen. Meine Vorredner haben schon viel dazu gesagt. Weniger Bildungschancen bedeuten weniger Zukunftschancen. Genau da setzen wir an. Auf frühe Förderung und Unterstützung kommt es an, auf Mehrgenerationenhäuser und den Ausbau von Bildung und Betreuung.

Frau Golze, ich will auf das eingehen, was Sie zur Kinderarmut gesagt haben. Ja, in Deutschland leben 2,5 Millionen Kinder von ALG II, also schon längst nicht mehr von Sozialhilfe, was deutlich weniger wäre. Betroffen ist jedes sechste Kind in Deutschland. Das ist schlimm, aber nicht mit Kinderarmut gleichzusetzen. Kinderarmut kann man nämlich nicht allein materiell und statistisch und vor allen Dingen nicht mit dem ALG-II-Satz begründen. Es ist ja auch nicht so, dass wir in den letzten Jahren weniger Geld für die Familien ausgegeben haben. Die Leistungen sind kontinuierlich gestiegen. Wir müssen alle gemeinsam – da stimme ich Herrn Schröder zu – darüber nachdenken, wie man dieses Geld zielgerichteter ausgeben kann.

Kinderarmut macht sich insbesondere durch eine fehlende Förderung der Kinder und durch fehlende Bildungsanreize durch das Elternhaus bemerkbar. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen auf Bundesebene verstärkt Chancengleichheit ermöglichen und viel früher damit beginnen. Ich appelliere dabei aber auch an die Länder, weil sie für die Schulpolitik zuständig sind. Ich glaube, Kinderarmut muss durch mehr Bildungschancen und mehr Möglichkeiten zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit für die Eltern bekämpft werden. Das ist die nachhaltigste Lösung.

Wenn Alleinerziehende ihr Leben selbst in die Hand nehmen können sollen, dann muss die Politik dafür sorgen, dass es ein gut funktionierendes Netz an Kinderbetreuungsmöglichkeiten, mehr Familienfreundlichkeit am Arbeitsplatz und gezielte finanzielle Hilfen gibt. In diesem Sinne tun wir sehr viel für die Bekämpfung von Kinderarmut.

Wir als SPD haben schon vor Jahren in der Regierung damit begonnen, Kindern früher und mehr Chancen auf Bildung und Betreuung zu geben. Sie kennen das Ergebnis: mehr Ganztagsgrundschulen. Ich bin froh, dass wir endlich den Einstieg in den Ausbau der Betreuung für unter 3-Jährige geschafft haben, und zwar auch in Westdeutschland. Wir warten nicht ab, Frau Haßelmann. Die erste Evaluation liegt vor; der Ausbau beginnt. Wenn Sie in die Kommunen gehen, dann sehen Sie das selbst. Alle bemühen sich, den Bedarf zu erheben. Wir sind uns sicherlich einig, dass wir alle das gerne noch sehr viel schneller hätten. Ich bin aber froh, dass nun endlich mit dem Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten für unter 3-Jährige begonnen wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich muss aber sagen, dass man die Schwerpunkte in NRW zurzeit leider etwas anders setzt. Dort ist die FDP übrigens mit in der Regierung. Durch die massiven Kürzungen der Zuschüsse für die Kindergärten haben wir dort in den Kommunen ein großes Problem. Die Kommunen, denen es am schlechtesten geht, müssen diese Kürzungen nun auf die Eltern abwälzen. Das ist keine Familienfreundlichkeit.

(Beifall bei der SPD – Sibylle Laurischk (FDP): Wo kommen denn die Schulden her? – Otto Fricke (FDP): Von wem haben wir das denn übernommen?)

– Das habt ihr eingeführt.

Wir führen gerade eine Debatte darüber, dass sich Leistung wieder lohnen muss. „Leistung muss sich wieder lohnen“ ist früher eher von der rechten Seite des Hauses als Ruf erklungen. Ihnen ging es dabei meistens um weniger Staat. Die Debatte hat sich aber geändert. Die Menschen wollen nämlich, dass die Gesellschaft und der Staat mehr Verantwortung übernehmen. Deshalb sage ich heute als Sozialdemokratin: Leistung muss sich lohnen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen darum etwas tun, damit unsere Gesellschaft nicht mehr so starr und undurchlässig ist. Wir müssen mehr in die Chancen für Kinder investieren. Die Leistungsträger in unserer Gesellschaft sind eben auch die Mütter und Väter in der Mitte der Gesellschaft, die Beruf und Familie erfolgreich vereinbaren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Otto Fricke (FDP))

Durch das Elterngeld, das wir einführen, wird genau diese Mitte der Gesellschaft unterstützt. Herr Fricke, es gibt keinen Gegensatz zwischen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der Sozialpolitik; wir haben beides gemeinsam geschafft. Das Elterngeld wird nämlich insbesondere denen zugute kommen, die geringe und mittlere Einkommen erzielen. Der übergroße Teil geht an diese Einkommensschichten. Das heißt, wir haben beides sinnvoll miteinander verbunden.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Johannes Singhammer (CDU/CSU))

Ich halte die Geringverdienerregelung, die wir im Rahmen der Ausgestaltung des Elterngelds vorgeschlagen haben, bis heute für eine der besten Regelungen. Davon können sich die Sozial- und Arbeitsmarktpolitiker einiges abschauen. Es ist nämlich der richtige Ansatz dafür, dass sich Arbeit wieder lohnt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ina Lenke (FDP): Das ist so bürokratisch!)

Mit diesem Konzept werden übrigens auch einmal die Männer als Leistungsträger angesprochen. Sie werden durch das Elterngeld darin unterstützt, sich mehr um ihre Rolle als Elternteil zu kümmern und genauso Verantwortung zu tragen wie die Frauen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin Griese, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollege Otto Fricke?

Kerstin Griese (SPD):

Wenn er keine Werbung für Bücher macht, dann gerne.

(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Bitte schön, Herr Fricke.

Otto Fricke (FDP):

Nein, ich glaube, das Buch kursiert im Moment in anderen Reihen.

(Nicolette Kressl (SPD): Nicht bei uns!)

Geschätzte Kollegin Griese, Sie sagten gerade, dass das Elterngeld eine Sozialleistung ist. Wenn das so ist und wenn auch die CDU/CSU das als eine Sozialleistung ansieht, dann hätte ich von Ihnen doch gerne eine Antwort auf die Frage, warum die Zahlung dieser Sozialleistung nach einem Jahr abrupt endet.

Kerstin Griese (SPD):

Geschätzter Kollege Fricke, Sie haben mir nicht richtig zugehört. Ich habe gesagt: Das Elterngeld ist eine Verbindung beider Komponenten, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und einer sozial gerechten Ausgestaltung. Es ist nämlich so, dass 63 Prozent der Elterngeldzahlungen Familien mit kleinen und mittleren Einkommen zugute kommen. Das ist ein Beweis für die sozialgerechte Ausgestaltung dieser Leistung. Das Neue an unserer Politik ist, dass wir an beides denken, an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und an soziale Gerechtigkeit.

Leistungsträger in unserem Land sind auch die vielen ehrenamtlich engagierten Menschen. In Deutschland sind das 23 Millionen. Sie sind der Kitt, der unsere Gesellschaft stark macht. Ein gutes Beispiel dafür sind die Freiwilligendienste, die wir mit diesem Haushalt weiter ausbauen; es sollen weitere Plätze geschaffen werden. Dass es noch immer mehr Bewerbungen von jungen Menschen als freie Plätze gibt, ist ein erfreuliches Zeichen.

Das gilt auch für den internationalen Jugendaustausch, den wir weiter fördern. Ich will angesichts der aktuellen Lage nur einen Satz zum deutsch-israelischen Jugendaustausch sagen, der unter schwierigen Bedingungen weitergeführt werden muss. Wir alle hoffen, dass in dieser Region die Waffen schweigen. Ich möchte denen danken, die sich weiterhin für den deutsch-israelischen Jugendaustausch und diese Begegnungen engagieren; denn wir brauchen diese Arbeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Ein Thema, das uns ebenfalls sehr wichtig ist, ist die Arbeit gegen Rechtsextremismus. Ich bin sehr froh, dass wir gemeinsam durchgesetzt haben, dass die Mittel in Höhe von 19 Millionen Euro für das Programm „Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ langfristig zur Verfügung stehen werden. Das ist notwendig. Es geht eben nicht um Strohfeuerprogramme, sondern es geht um eine langfristige Verstetigung der Arbeit, wie wir das im Koalitionsvertrag festgehalten haben. Ich bin froh – das war uns als SPD sehr wichtig –, dass der Schwerpunkt auf der Arbeit gegen Rechtsextremismus liegt; denn wir alle wissen, wie hoch dort das Gefahrenpotenzial ist.

Für uns ist eine kontinuierliche und nachhaltige Arbeit für Demokratie und Toleranz die beste Prävention. All das kann nur funktionieren, wenn die Projekte und Initiativen vor Ort unterstützt werden. Ich habe in diesem Sommer einige Bürgerbündnisse und mobile Beratungsteams besucht und konnte mich davon überzeugen, in welcher gesellschaftlichen Breite dort gearbeitet wird: parteiübergreifend mit Kirchen, Verbänden und Vereinen. Ich danke auch den vielen Menschen, die sich bei der Ministerin dafür eingesetzt haben, dass diese Arbeit fortgeführt wird.

Wir als SPD wollen, dass erfolgreiche Arbeit fortgeführt werden kann. Die Struktur von mobilen Beratungsteams, Opferberatungsstellen und Netzwerkstellen bildet einen überregionalen Hintergrund, vor dem sich sehr viele Menschen ehrenamtlich engagieren können. Diese Arbeit ist wichtig und muss sicherlich weiterentwickelt werden. Aber sie darf nicht beendet werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Gerade angesichts der aktuellen Situation müssen wir wachsam sein. Wir erleben in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, wie Menschen im Wahlkampf von Rechtsextremen belästigt und fotografiert, wie Autokennzeichen aufgeschrieben werden, wie sie sogar bedroht und verfolgt werden. Das ist Mitgliedern meiner Partei mehrfach passiert. Das zeigt uns, dass wir alle gemeinsam dafür einstehen müssen, dass rechtsextreme, rassistische und Menschen ausgrenzende Parteien nicht noch einmal in die Landtage einziehen dürfen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Viele von Ihnen haben Patenschaften für Projekte wie „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ übernommen. Ich nenne hier auch das Netzwerk für Demokratie und Courage in Sachsen; Sachsen ist übrigens das Bundesland mit der höchsten Dichte an organisierten Rechtsextremen. Die Arbeit gegen Rechtsextreme, die von der Zivilgesellschaft geleistet wird, ist wichtig. Ich halte auch die Idee der Kollegin Lazar für unterstützenswert, uns zu überlegen, ob wir ausschließlich Kommunen oder auch Verbünden von Trägern die Möglichkeit geben, Projekte zu beantragen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme zum Schluss, nur noch ein paar Sekunden.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Eine Minute ist nicht mehr drin.

Kerstin Griese (SPD):

Frau Laurischk, wir sind nicht die Bösen. Der Titel für die Integration junger Zuwanderinnen und Zuwanderer ist in unserem Haushalt weder gekürzt noch gestrichen worden. Er liegt weiterhin bei einem Volumen von 66 Millionen Euro. Ich habe mich noch einmal erkundigt: Kein Projektträger, der um Unterstützung gebeten hat, ist zurückgewiesen worden. Wenn Sie das im Innenausschuss kritisieren wollen, können Sie das dort tun. Da, wo es um die Integration junger Migranten geht, haben wir die Mittel in gleicher Höhe für die Weiterführung der Arbeit bereitstellen können.

(Sibylle Laurischk (FDP): Da muss mehr getan werden!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

8.9.06

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