Berlin | Reden

„Unser Einsatz für ein soziales Europa ist ein Einsatz für ein demokratisches Europa der Zukunft“

Kerstin Grieses Rede am 11. Mai 2012 in der Debatte über die Regierungserklärung „Europas Weg aus der Krise: Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit“

Kerstin Griese (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir fehlt aufseiten der Regierungsfraktionen in dieser Debatte ein wenig die Begeisterung für die europäische Idee.

(Oliver Luksic (FDP): Wo ist Steinmeier? ‑ Joachim Spatz (FDP): Wo sind die SPD-Kanzlerkandidaten?)

Ich glaube, wir werden die Zustimmung für Europa und auch für die schwierigen Schritte, die wir jetzt zu tun haben, nur dann wieder bekommen, wenn die Menschen auch davon überzeugt sind, dass wir die Krise meistern können. Diese Überzeugung fehlt bei Ihnen anscheinend.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN  Joachim Spatz (FDP): Wie begeistert sind denn die Kanzlerkandidaten? Fehlanzeige!)

Es ist ja auch interessant, dass Umweltminister Röttgen versucht hat, die NRW-Wahl am Sonntag zu einer Abstimmung über den Europakurs der Kanzlerin Merkel zu machen.

(Otto Fricke (FDP): Quatsch! Was soll das denn?)

Bevor er da deutlich zurückgepfiffen wurde, hat er tatsächlich gedacht, dass er damit seine bescheidenen Zustimmungswerte steigern könnte. Welch ein Irrtum; denn die Menschen wissen, dass Sparen alleine kein zukunftsfähiges Konzept ist, sondern dass Sparen und Wachstum zusammengehören. Hannelore Kraft hat mit ihrer vorbeugenden Politik überzeugend gezeigt, dass Sparen und Investitionen in die Zukunft, in Bildung und in Kinder zusammengehören und zwei Seiten derselben Medaille sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ‑ Joachim Spatz (FDP): Wo denn zum Beispiel? Wo spart sie denn?)

Deshalb ist es uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten so wichtig, dass beides zusammengehört: Sparen und die Entwicklung von Wachstum, ein gemeinsamer Binnenmarkt und gemeinsame soziale Standards in Europa, soziale Gerechtigkeit und Innovation, die gemeinsame Währung, der Euro, und offene Grenzen und Freizügigkeit. Europa ist nämlich mehr als die Krise, Europa bedeutet auch Jugendaustausch, Studentenaustausch, kulturelle Vielfalt und eine starke Zivilgesellschaft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Unser ehemaliger Bundespräsident Johannes Rau hat 2003, einem Jahr, in dem es um die Erweiterung der Europäischen Union um zehn Staaten ging und in dem es deshalb durchaus heftige Debatten gab, einmal gesagt ‑ ich zitiere ihn ‑:

Dauerhafte Fortschritte bei der Einigung unseres Kontinents können wir nur erreichen, wenn die europäische Idee in den Herzen und Köpfen der Menschen verankert wird, wenn die Einigung von den Menschen bejaht und getragen wird. Diese Zustimmung ist möglich, aber sie fällt nicht vom Himmel. Wer in Politik und Gesellschaft Verantwortung trägt, muss dafür werben.

Auch heute geht es darum, mit Herz und Verstand dafür zu werben. Ich habe aber das Gefühl, dass wir heute vonseiten der Regierung viele Abgesänge und Trauerreden gehört haben.

Es geht nicht, für Europa zu werben, wenn man immer nur zögert und zaudert, wenn man zuerst auf die „faulen Griechen“ schimpft und jegliche Hilfen ausschließt, um sie später dann doch zu gewähren ‑ übrigens zu spät; dadurch wurde es noch teurer ‑, und wenn man zuerst nachhaltige Rettungsschirme ausschließt, sie später dann aber doch einführen will. Es geht jetzt darum, dass wir in dieser Krise entschlossen und zielgerichtet für Europa werben. Dazu gehört, dass wir neben der Wirtschafts- und Währungsunion eben auch eine Sozialunion brauchen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Unser Ziel ist das soziale Europa. Uns macht große Sorgen, dass sich eine soziale Schieflage entwickelt. Die wachsende soziale Ungleichheit in Europa gefährdet die europäische Einigung und die Identifikation der Menschen mit Europa.

Die deutsche Bundesregierung zeigt leider keinerlei Ehrgeiz, mehr Integration und Teilhabe für die Menschen im eigenen Land zu erreichen. Sie engagiert sich nicht bei der Bekämpfung von Armut, sie hat die Langzeitarbeitslosen aufgegeben,

(Joachim Spatz (FDP): Es werden immer weniger!)

sie weigert sich, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, und sie will ein unsinniges Betreuungsgeld einführen, statt in den Kitaausbau zu investieren. Ich könnte das ewig weiter fortsetzen.

(Joachim Spatz (FDP): Nein!)

Diese Bundesregierung zeigt leider auch kein Engagement, soziale Verwerfungen in den Ländern Europas, die jetzt unsere Hilfe brauchen, zu verhindern. Man muss sich allein die Situationen in Spanien und Griechenland, wo die Hälfte der jungen Menschen arbeitslos ist, vorstellen, um zu wissen, was das mit den Menschen dort macht. Das ist ein dramatischer Zustand.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Mindestlohn ist gesenkt worden, und es sind gerade auch die gut ausgebildeten Menschen, die dort arbeitslos sind.

Hier zeigt es sich, dass wir dringend mehr tun müssen, um Hoffnung für diese junge Generation zu schaffen. Deshalb brauchen wir mehr Wachstum, einen besseren und zielgerichteteren Einsatz der europäischen Mittel und ein konkretes Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit.

Für mehr Wachstum und Zusammenhalt in Europa gibt es Beispiele. Wir brauchen Haushaltskonsolidierung, klare Sparziele und dazu ein Wachstumspaket. Wir haben das in Deutschland schon einmal gezeigt, als sozialdemokratische Minister mit den Konjunkturpaketen dafür gesorgt haben, dass Kommunen gestärkt wurden, dass Arbeit geschaffen wurde und dass mit der Kurzarbeit Jobs erhalten wurden ‑ gerade bei uns in Nordrhein-Westfalen.

(Beifall bei der SPD ‑ Otto Fricke (FDP): Und was ist dann passiert? ‑ Oliver Luksic (FDP): Verfassungswidriger Haushalt!)

Deshalb reicht es heute nicht, immer nur die guten Daten und Zahlen zu loben, sondern man darf auch noch einmal sagen, wer dafür gesorgt hat. Das waren nämlich sozialdemokratische Minister und ihre Konzepte.

(Oliver Luksic (FDP): Was wurde denn zu dem Haushalt gesagt?)

Um die Identifikation mit Europa zu erhalten, müssen wir dringend die Verursacher der Krise an den Kosten beteiligen. Dazu gehört eine Steuer auf Finanzgeschäfte, dazu gehört eine effektivere Kontrolle der Banken, dazu gehört ein gesetzlicher Mindestlohn auch für Deutschland, damit nicht immer nur die kleinen Leute zur Kasse gebeten werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Europa ist ein Europa der offenen Grenzen. Für viele Menschen sind die gemeinsame Währung und die Reisefreiheit die beiden Dinge, durch die Europa ganz praktisch erfahrbar ist. Deshalb sage ich ganz deutlich: Es dient der europäischen Einigung nicht, wenn der Bundesinnenminister zusammen mit seinem abgewählten französischen Kollegen über die Wiedereinführung von Kontrollen an den innereuropäischen Grenzen nachdenkt. Wir wollen ein offenes Europa und keine neuen Schlagbäume.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen eine andere Flüchtlingspolitik; denn auch die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass keine Menschen mehr im Mittelmeer ertrinken und dass sich die Lage in den griechischen Flüchtlingslagern verbessert. Auch das gehört zu einem sozialen Europa.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ein letzter Gedanke. Damit auch die arbeitslosen jungen Menschen in Griechenland, Spanien und Portugal eine Zukunftsperspektive erhalten, ist es sehr wichtig, etwas für sie zu tun; denn anderenfalls werden sie Europa infrage stellen, was eine Gefahr für unsere Demokratie sein wird. Sie werden nämlich fragen, ob Demokratie und soziale Marktwirtschaft die richtigen Antworten sind. Wir haben am vergangenen Sonntag gesehen, dass Rechtsextreme ins griechische Parlament eingezogen sind. Das sollte uns zu denken geben. Deshalb ist unser Einsatz für ein soziales Europa ein Einsatz für ein demokratisches Europa der Zukunft.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

11.5.12

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