Berlin | Reden

„Auf Augenhöhe miteinander sprechen“

Kerstin Grieses Rede am 22. November 2012 in der ersten Beratung über das Gesetz zum Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung eines männlichen Kindes

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zum Ende dieser Debatte will ich mich erst einmal dafür bedanken, dass wir diese Debatte in einer sehr ernsthaften und sehr respektvollen Art und Weise geführt haben. Es ist gut, dass wir jetzt nach einigen aufgeheizten Diskussionen in diesem Hause so respektvoll darüber sprechen. Vielen Dank dafür!

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Ich möchte noch einmal auf den Auslöser unserer Debatte zurückkommen, auf das Urteil der kleinen Strafkammer des Landgerichts Köln vom 7. Mai 2012, das interessanterweise zunächst öffentlich gar nicht zur Kenntnis genommen worden ist, sondern erst sechs Wochen später, als die Financial Times Deutschland darüber berichtet hat. Dann setzte eine, glaube ich, beispiellose Entwicklung ein, die viele Juden und Muslime in unserem Land sehr verunsichert hat.

Seit über 50 Jahren leben Muslime in Deutschland. Bis zu diesem Urteil hat niemand ihren Ritus, ihre Söhne beschneiden zu lassen, wenn diese im Grundschulalter oder jünger sind, infrage gestellt. Auch das jüdische Ritual, männliche Säuglinge am achten Tag nach der Geburt zu beschneiden, stand bisher nicht zur Disposition. Aber in diesem Sommer war die Empörung groß.

Ich hätte mir sehr gewünscht, dass wir zuerst einmal unseren jüdischen und muslimischen Bürgerinnen und Bürgern zugehört hätten, dass wir sie gefragt hätten: Warum macht ihr das? Welche Bedeutung hat das für euch? Gibt es vielleicht eine Veränderung, eine Diskussion innerhalb der Religionsgemeinschaften darüber, wie sich diese Praxis ändern, entwickeln kann?

(Renate Künast [Bündnis 90/Die Grünen]: Haben wir doch gemacht!)

Wenn man zuerst zuhört, dann kann man anschließend auf Augenhöhe miteinander darüber sprechen, welche Regeln der Staat dafür setzen soll und wie sich die Praxis in Zukunft vielleicht verändern kann.

Ich weiß – das habe ich in vielen Gesprächen erfahren –, wie verletzt Juden und Muslime von dieser Debatte sind, in der ihnen – nicht heute hier, wohl aber sehr häufig an anderer Stelle, wie wir alle in den Zeitungen und im Internet lesen konnten – unterstellt wird, sie quälten ihre Kinder und missachteten Kinderrechte. Ich halte eine solche pauschale Herabwürdigung von Menschen für unerträglich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der Linken)

Für mich und sicherlich auch für viele andere in diesem Parlament gilt: Juden und Muslime gehören zu Deutschland. Sie leben hier. Sie sind hier willkommen. Sie sind Bestandteil unserer Gesellschaft, und zwar mit ihrer Religion.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Das gilt für mich nicht nur aufgrund unserer historischen Verantwortung, sondern auch und gerade für die Zukunft einer multireligiösen Gesellschaft.

Mir ist besonders wichtig, dass wir die Kinderrechte und die Religionsfreiheit nicht gegeneinander ausspielen; denn sie sind kein Gegensatz. Wir können und wollen beides vereinbaren. Deshalb habe ich besonders darauf geachtet, was der UN-Kinderrechtsausschuss zu diesem Thema gesagt hat. Ich habe mit dem langjährigen deutschen Vertreter im UN-Kinderrechtsausschuss gesprochen. Laut Art. 14 der UN-Kinderrechtskonvention – sie wurde schon zitiert – haben Kinder das Recht, dass Eltern sie bei der Ausübung des Rechts auf Religionsfreiheit leiten, also das Recht auf religiöse Erziehung. Der UN-Kinderrechtsausschuss kritisiert zwar, dass die Beschneidung von Jungen in afrikanischen Ländern teilweise unter hygienisch nicht einwandfreien Bedingungen stattfindet. Aber die Beschneidung von Jungen wird vom UN-Kinderrechtsausschuss nicht grundsätzlich infrage gestellt. Mir ist wichtig, das noch einmal zu betonen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines der großen Missverständnisse in der aktuellen Debatte ist die Annahme, dass man Religion von Kindern so lange fernhalten müsse, bis sie sich im Alter von 14 Jahren – quasi vollkommen aus dem Nichts heraus – für die eine oder andere Religion entscheiden könnten. Selbstverständlich gilt ab 14 Jahren die Religionsfreiheit. Jugendliche könnten sich dann entscheiden, aus einer Religionsgemeinschaft auszutreten oder in eine Religionsgemeinschaft einzutreten. Aber das kann man doch nur, wenn man die Chance hatte, in einer Religion aufzuwachsen und sie kennenzulernen und zu erleben. Selbstverständlich kann man dann mit 14 Jahren aus der Religionsgemeinschaft austreten. Viele Schüler wählen den Religionsunterricht ab, egal ob sie beschnitten oder getauft sind.

Die Praxis, dass jüdische und muslimische Söhne beschnitten werden, ist nicht ein Akt der Misshandlung, sondern ein Akt des Aufwachsens in ihrer Religion und Kultur. Heribert Prantl hat das in der Süddeutschen Zeitung treffend beschrieben – ich zitiere –: „Sie macht das Kind zum Subjekt des Glaubens, bedeutet den Eintritt in die Gemeinschaft.“ Man mag das für sich selbst nicht glauben oder annehmen – das muss auch niemand –, aber es geht darum, dass wir akzeptieren, was das für Juden und Muslime bedeutet. Deshalb ist es mir wichtig, noch einmal daran zu erinnern – darauf haben schon viele hingewiesen –, dass die Beschneidung am achten Tag für Juden konstitutiv ist, wenn nicht der Gesundheitszustand dagegen spricht. Wir haben in vielen Gesprächen erfahren, wie wichtig die Gesundheit gerade im Judentum ist. Die Beschneidung findet durch jüdische Mohalim in der Synagoge statt, die eine medizinische und theologische Ausbildung haben. Einige sind auch ausgebildete Ärzte. Schon jetzt ist es so, dass zuvor ein Kinderarzt das Kind begutachtet und dass schmerzstillende Mittel eingesetzt werden. Wichtig ist auch zu wissen, dass die Beschneidung von allen jüdischen Richtungen unterstützt und durchgeführt wird.

Bei den Muslimen findet die Beschneidung meistens in einem Krankenhaus oder einer Arztpraxis unter Betäubung oder Narkose statt. Wir haben in den letzten Wochen mit vielen aus den Bereichen der Medizin und der Rechtswissenschaft sowie mit jüdischen und muslimischen Vertretern gesprochen. Dafür bedanke ich mich ganz ausdrücklich; denn das war sehr hilfreich. Besonders hilfreich waren die Vorschläge des Ethikrats, der vier Punkte definiert hat, unter denen die Beschneidung von Jungen in Deutschland geregelt werden soll und die meines Erachtens im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Großteil umgesetzt worden sind. Ich plädiere dafür, über die Änderungsanträge sehr ernsthaft zu beraten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, für unsere Debatte im Bundestag ist wichtig: Es geht jetzt in der Gesetzgebung um die Frage, ob wir, wie es das Kölner Urteil nahelegt, die Beschneidung von Jungen verbieten wollen oder nicht. Eigentlich wäre ein solches Gesetz unnötig, wenn nicht ein einzelnes Gericht ein solches Verbot erlassen wollte. Ein solches Verbot lehne ich ab. Wir brauchen jetzt ein Gesetz, mit dem wir – das ist sicherlich ein guter Schritt – auch Standards für die Beschneidung von Jungen regeln. Ich bin sehr dafür, dass wir im Gesetz klare Standards setzen, und zwar bei der medizinischen Ausbildung der Mohalim, bei der fachgerechten Durchführung, bei der qualifizierten Schmerzbehandlung und bei der umfassenden Aufklärung sowie bei der Anerkennung des Vetorechts des Kindes. Das Kindeswohl muss in unseren Beratungen im Vordergrund stehen; das ist mir besonders wichtig. Ich hoffe und wünsche, dass wir eine Regelung finden, die das Kindeswohl berücksichtigt sowie Juden und Muslime auch in Zukunft bei uns willkommen heißt.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

22.11.12

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