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Die PISA-Studie

Ein Diskussionspapier für den SPD-Parteivorstand von Kerstin Griese, Heiko Maas, Christoph Matschie, Juliane Seifert (Juso-Hochschulgruppen) und Ute Vogt

In der so genannten „Pisa-Studie“ hat das deutsche Bildungssystem in zweifacher Hinsicht katastrophale Noten erhalten: Zum einen wird nun amtlich, dass die Lehr- und Lernqualität insgesamt viel zu niedrig ist. Zum anderen werden soziale Benachteiligungen aufgezeigt, die in keinem anderen OECD-Land in diesem Maße zu finden sind.

Sollten nicht schon kurzfristig nachhaltige Reformen im Bereich des Bildungswesens auf den Weg gebracht werden, wird der gegenwärtige Zustand in Zukunft nicht nur zu einer Zunahme von gesellschaftlichen und sozialen Spannungen führen, sondern auch zu einer weiteren massiven Vergeudung von ökonomischen Ressourcen. Dies darf sich gerade ein rohstoffarmes Land wie Deutschland im internationalen Wettbewerb nicht leisten.

Anders als Staaten wie Kanada, Finnland, Japan und Schweden schafft es das Schulsystem hier zu Lande nicht, herkunftsbedingte Nachteile auszugleichen. Wer aus der Unterschicht kommt, hat in Deutschland OECD-weit die kleinsten Chancen auf das Erreichen des Abiturs oder eines mittleren Bildungsabschlusses.

Auch Bildungsprobleme von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund sind in kaum einem anderen Land so groß wie in Deutschland. Als besonders erfolgreich haben sich in Ländern mit ähnlichem Migrationshintergrund (Norwegen, Schweden, Österreich, Schweiz) die verstärkte Förderung schon im Kindergarten, Ganztagsschulen, sowie spezieller Förderunterricht bewährt.

Alarmierend ist auch der geringe Anteil an Abiturienten. Ihr Anteil stagniert seit längerer Zeit bei knapp unter 30 Prozent, während er in etlichen anderen Industriestaaten bei bis zu 60 Prozent liegt.

Beim Lesen, der wichtigen Basiskompetenz für das weitere Leben, landeten die deutschen Schüler lediglich im unteren Drittel. Nicht wesentlich unterscheiden sich davon die Ergebnisse in Mathematik und den Naturwissenschaften. Auffällig ist hierbei, dass deutsche Schüler besonders mit Aufgaben überfordert sind, bei denen es um Reflektieren, Bewerten und Anwenden von bisherigem Wissen geht. Besonders alarmierend ist die Problemgruppe von 22,6 Prozent der Schüler, die nicht bzw. gerade einmal die Stufe eins der insgesamt fünf Lesekompetenzen erreichen. Eine Lehrstellen-Einstellungsprüfung von Industrie- und Handelskammern würde somit fast jeder vierte Schüler in Deutschland nicht bestehen. Außerdem erreicht nicht einmal eine größere Gruppe an Schülern die höchste Kompetenzstufe. Mit neun Prozent liegt Deutschland hier ebenfalls weit hinter den Spitzenreitern Australien, Kanada und Finnland zurück, die dabei Quoten von 15 Prozent erzielen.

SPD und Bildungspolitik

Die SPD hat in den vergangenen Jahrzehnten die entscheidenden bildungspolitischen Reformen angestoßen und gestaltet. Wie keine andere Partei hat sich die SPD in der Bildungspolitik vom Postulat der Chancengleichheit leiten lassen und sich so für eine Bildungsbeteiligung von allen gesellschaftlichen Schichten eingesetzt. Vor diesem Hintergrund müssen die Zahlen über die Auswirkungen der sozialen Herkunft auf den Schulerfolg umso besorgniserregender erscheinen.

Die Erhöhung der Bildungsbeteiligung in Deutschland und die deutliche Verbesserung des Leistungsstandards an den Schulen stellen die größte bildungspolitische Herausforderung seit der Bildungsexpansion in den 60er Jahren dar. An dieser Qualitäts- und Expansionsoffensive muss auch der Bund aus gesamtstaatlicher Verantwortung seinen Beitrag leisten. Zu prüfen wäre auch, wie weit dem Bund nicht auch eine gewisse Rahmenkompetenz im Schulbereich aufgetragen werden muss, sofern die Länder ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass ihm schon einmal in den 60er Jahren im Hochschulbereich angesichts der damaligen Herausforderungen eine Rahmenkompetenz übertragen worden ist.

FORDERUNGEN UND THESEN

1. Früher fördern

Der Kindergarten und die Vorschule, aber auch die Grundschule werden in Deutschland noch viel zu wenig genutzt, um frühkindliche Bildung zu vermitteln. Ein Bestandteil des Bildungssystems muss die öffentliche Betreuungsinfrastruktur für Kleinkinder werden, denn die sozialen Barrieren in unserem Bildungssystem sind zu einem erheblichen Teil eine Folge der fehlenden vorschulischen Förderung. Dabei mangelt es bei Kindertageseinrichtungen vor allem an pädagogisch und fachlich hinreichend qualifiziertem Personal, das dementsprechend bezahlt würde, und einem weiter definierten, altersgemäßen Bildungsauftrag, durch den wichtige Grundlagen gelegt würden.

Bei kleinen Kindern besteht ein sehr hohes Interesse an naturwissenschaftlichen und technischen Fragen. Es gilt, diesen Forscher- und Entdeckerdrang kindgerecht aufzugreifen. Auch fällt es Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter besonders leicht, Fremdsprachen zu erlernen. Ein langsames Heranführen und spielerisches Erlernen von einer anderen Sprache bereits in diesem Alter erscheint demzufolge sinnvoll.

In der Grundschule muss zukünftig weitaus mehr Wert auf die individuelle Förderung gelegt werden, um rechtzeitig Schwächen oder Begabungen erkennen zu können. Mit fortschreitendem Alter wird es bekanntlich immer schwieriger, Versäumtes aufzuholen. Dabei muss das soziale und kulturelle Umfeld der Schülerinnen und Schüler und ihre damit korrespondierenden Lernvoraussetzungen bedacht werden.

Besonders fatal ist die unzureichende finanzielle Ausstattung der frühkindlichen Bildungseinrichtungen hier zu Lande: Hier fällt Deutschland bei den durchschnittlichen Ausgaben für diesen Bereich weit hinter anderen wie den Skandinaviern und den USA zurück. In diesem Zusammenhang ist das Ansinnen der Länderfinanzminister, den erwarteten demographisch bedingten Schülerrückgang nicht für deutliche Qualitätsverbesserungen und eine Erhöhung der Bildungsbeteiligung, sondern für Einsparungen zu nutzen, abzulehnen. Investitionen in ein erweitertes Bildungs- und Betreuungssystem sind unzweifelhaft eine gesellschaftliche Aufgabe.

2. Ganztagsschulen bedarfsgerecht einführen

Die bedarfsgerechte flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen und Ganztagseinrichtungen für Kinder muss an erster Stelle stehen. Diese sind nicht nur aus familien-, gleichstellungs- und arbeitmarktpolitischer Perspektive sinnvoll, sondern Ganztagsschulen müssen eine zusätzliche Funktion bekommen. So wie Kindergärten und Kindertagesstätten einen Bildungsauftrag erhalten müssen, so müssen Schulen auch umgekehrt einen Erziehungsauftrag erhalten. Nur so kann dafür gesorgt werden, dass Kinder unabhängig vom Elternhaus die gleichen Chancen haben.

In Ganztagsschulen können auch lernschwache Schülerinnen und Schüler ausreichend und individuell gefördert und sozial integriert werden. Aber auch gute Schülerinnen und Schüler erhalten durch zusätzliche Zeit und Angebote die Möglichkeit, ihren Begabungen nachzugehen und diese weiter auszubauen.

3. Lernschwache Schüler gesondert fördern

Als besonders erschreckend fällt bei den deutschen Pisa-Ergebnisse die extrem große Gruppe von Schülern, die nicht einmal die grundlegendsten Lesekenntnisse besitzen, auf. Fast ein Viertel der deutschen Zehntklässler wäre demzufolge kaum in der Lage, einfachste Eignungsprüfungen zu bestehen. Überdurchschnittlich stark vertreten ist dabei die Gruppe der Ausländerkinder.

Wirksam lassen sich derartige Schwächen fast nur durch gezielten und gesonderten Förderunterricht beseitigten. Dazu ist eine gezielte Qualifizierung der Lehrerinnen und Lehrer von Nöten, um schwache Schüler rechtzeitig zu erkennen und fördern zu können.

Ein besonderes Augenmerk muss auf Schulen mit einem hohen Anteil von Kinder aus sozialschwachen und bildungsfernen Schichten gelegt werden. Hier ist in Zukunft eine besondere personelle und organisatorische Förderung notwendig, um das Entstehen von „zweitklassigen“ Bildungseinrichtungen zu vermeiden.
Für Kinder aus Migrationsfamilien sollten noch zusätzliche Fördermaßnahmen getroffen werden: Dazu gehört neben dem Angebot in Ganztagsschulen und im Kindergarten auch spezieller Unterricht schon im vorschulischem Alter.

4. Unterricht reformieren

Die „Pisa-Studie“ zeigt auf, dass es den deutschen Schülern gerade an elementaren Fähigkeiten beim Leseverständnis mangelt. Gerade in den ersten Jahren sollte zukünftig stärkeres Gewicht auf Vermittlung der deutschen Sprache gelegt werden. Dabei beinhaltet Lesekompetenz auch den kritischen Umgang mit Texten sowie ihre Bewertung und Reflektion.

Ähnliches gilt für die Mathematik und die Naturwissenschaften, bei deutsche Schülerinnen und Schüler ebenfalls mangelnde Fähigkeiten haben. Auch hier müssen die Grundkenntnisse intensiver von Beginn an vermittelt werden. Die Naturwissenschaften fristen gerade in der Grundschule und oft auch den ersten Jahren der weiterführenden Schulen ein Schattendasein. Hier muss über Möglichkeiten, schon bei jüngeren Schülerinnen und Schülern das Interesse für naturwissenschaftliche und technische Fragen zu wecken und sie schrittweise und im geeigneten Maße an sie heranzuführen, nachgedacht werden. Besonders der praktische Bezug zur Anwendung soll in den Naturwissenschaften verstärkt werden, um Erlebnislernen zu ermöglichen.

Insgesamt brauchen wir eher weniger Fächer, mehr fächerübergreifenden Unterricht und das Lernen von vernetztem Denken. Dabei sollen die Erkenntnisse der Erziehungswissenschaft über altersgemäßes Lernen stärker berücksichtigt werden.

5. Durchlässigkeit erhöhen – frühzeitige Selektion verhindern

Charakteristisch für das deutsche Schulsystem im „Pisa“-Ländervergleich ist eine sehr frühe Selektion in die verschiedenen weiterführenden Schulformen. Die frühe Entscheidung, die in der Regel bereits im zehnten Lebensjahr zu treffen ist, wird von vielen Bildungsexperten als wesentlicher Grund für das schlechte Abschneiden des deutschen Schulsystems angesehen. Das deutsche Modell gewährleistet nämlich nicht – wie es bei einem solchen System gerade sein müsste – eine hohe Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schultypen. Schüler mit Lernproblemen werden im gegliederten Schulsystem zu schnell „nach unten“ abgegeben, ein Aufstieg leistungsstarker Schüler dagegen – zum Beispiel von der Hauptschule ins Gymnasium – findet zu selten statt.

Die Ausweitung der Grundschule auf sechs Jahre, wie es in Berlin und Brandenburg bereits praktiziert wird, beziehungsweise die Einführung einer Orientierungsstufe bis zur sechsten Klasse kann integrativ wirken und Chancen für Schülerinnen und Schüler eröffnen. Ein Blick auf die Länder mit den besten Ergebnissen zeigt, dass Staaten wie Finnland und Schweden ihren Nachwuchs mindestens acht bis neun Jahre auf eine gemeinsame Schule schicken.

Ungeachtet der leidvollen Diskussion in der Vergangenheit kann die Idee der Gesamtschule wieder neu aufgegriffen werden. Dabei gilt es auch, ihre Mängel offen und kritisch zu diskutieren und das Konzept weiterzuentwickeln.

6. Lehrer- und Erzieherausbildung reformieren

Wenn der Auftrag von Kindergärten und Kindertagesstätten um Bildungsaufgaben erweitert wird, muss auch die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern reformiert werden. In vielen europäischen Ländern findet sie an (Fach-)Hochschulen statt. Auch in Deutschland müssen Erzieherinnen und Erzieher besser ausgebildet werden.

Angehende Lehrerinnen und Lehrer müssen von Beginn ihres Studiums an professionell auf ihren späteren Beruf vorbereitet werden. Dies bedeutet eine bessere Verzahnung vom fachwissenschaftlichen Studium mit Pädagogik- und Didaktikausbildung sowie Schulpraktika vom ersten Semester an. Lehramtsstudierende brauchen einen entscheidend größeren Praxisanteil in ihrer Ausbildung. Nur durch Unterrichtspraxis können angehende Lehrerinnen und Lehrer sich selbst besser einschätzen und lernen, sich auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler einzustellen und ihnen den Stoff je nach deren Können zu vermitteln. Nur der integrative Weg kann hier zum Erfolg führen. Überlegungen, die eigentliche pädagogische Ausbildung erst nach einem abgeschlossenes Fachstudium zu beginnen, erscheinen deswegen kontraproduktiv.

Die Ausbildung zu einem guten Lehrer ist aber nicht mit dem Studium beendet. Die Weiterbildung für Lehrerinnen und Lehrer muss verbessert werden. Dafür könnte die Bereitstellung eines „Weiterbildungsbudgets“ für jede Schule zur entsprechenden Personalentwicklung ein Beitrag sein.

15.1.02

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