Berlin | Positionen

Ein „Mehr“ desselben führt zu nichts

Unsere Kritik am Status quo des Sozialstaats

von Kerstin Griese und Rolf Stöckel

Die 140-jährige Geschichte der Sozialdemokratie bestand und besteht darin, unter sich ständig verändernden Bedingungen und Möglichkeiten soziale Gerechtigkeit für möglichst viele Menschen zu verwirklichen. Das ist unser Auftrag und wird es auch in Zukunft sein.

Eine Botschaft in der Debatte über „soziale Gerechtigkeit“ und „Sozialabbau“ ist besonders fatal: Es wird der Eindruck vermittelt, mit dem Sozialstaat der siebziger und achtziger Jahre sei alles in Ordnung gewesen, wir hätten jetzt nur weniger Geld und es müsse nur der Aufschwung kommen. Dann würde alles wieder gut.

Wir sagen aber, was Tatsache ist: Unser Sozialstaat, für viele das Erfolgsmodell der alten Nachkriegs-Bundesrepublik, wird seinen Aufgaben immer weniger gerecht und hat die Grenzen der Finanzierbarkeit längst überschritten. Bilanz, Kritik und Reformbedarf unterscheiden sich naturgemäß je nach Teilinteressen, Gesamtschau und politischen Zielen.

Die Glaubwürdigkeit des Sozialstaates ist längst erschüttert. Die, die mehr zahlen sollen, befürchten, in Zukunft weniger zu bekommen. Beitrags- und Steuerzahler sind nicht nur wegen der zunehmenden Schattenwirtschaft und falscher Anreize demoralisiert. Die Betroffenen sind verunsichert und werden meist für ihre Lage selbst verantwortlich gemacht.

Ein Staat, der 114 Milliarden Euro allein für Schuldzinsen und Steuerzuschüsse zu den Renten und nur 12 Milliarden Euro für Forschungs- und Bildungsinvestitionen ausgibt, ist für die jüngere Generationen nicht mehr akzeptabel. So weitet sich die Krise des Sozialstaats immer mehr zur Krise des gesamten politischen Systems aus. Der Sozialstaat darf nicht nur heute, er muss auch morgen und übermorgen noch in der Lage sein, existentielle Lebensrisiken seiner Bürger abzusichern.

Das „europäische Sozialstaatsmodell“, von der Linken als globales Projekt angestrebt, muss anders aussehen, als das deutsche, wenn es überzeugen will.

Ein strukturkonservatives „weiter so!“ wird zum Scheitern führen. Ein Ergebnis, wie es sich die neoliberalen Totengräber jenseits der Sozialdemokratie wünschen.

Der deutsche Versorgungs- und Sozialstaat, einst von Bismarck als Mittel gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie eingeführt und von Adenauer bis Schröder zum korporativen „Modell Deutschland“ entwickelt, erzeugt seit Jahren Fehlentwicklungen und Widersprüche:

1 Die Agenda 2010 – Ein erster Schritt

Die aktuelle Orientierungskrise und der erbitterte Streit in der SPD und im linken sozialpolitischen Umfeld überraschen nicht. Trotz Gegenwind gibt es wenig zu entschuldigen. Nicht aus Geldmangel, sondern vor allem wegen unserer Grundwerte und Ziele haben wir keine andere Perspektive, als den Konflikt um die Agenda 2010 offensiv zu führen und für ein neues Sozialstaatskonzept zu werben.

Bis zur Regierungserklärung Gerhard Schröders am 14. März 2003 wurde eine umfassende und realistische Darstellung der Sozialstaatskrise und notwendiger Handlungsoptionen verharmlost, vermieden oder durch Formelkompromisse verdeckt. Das hin und her der Notoperationen ohne nachhaltige Systematik, das „Zurückzucken“ vor den Lobbyisten und ein fehlendes Leitbild haben unsere Probleme noch verschärft. Notwendige ökonomische Anpassungen, nicht nur im globalen Wettbewerb, gelten vielen nicht als gemeinwohlorientiert, sondern werden als zu „kapitalfreundliche Politik“ angegriffen; wie überhaupt im traditionalistisch-linken Bewusstsein die Sozialpolitik nur eine Verteilungspolitik zu sein scheint, Produktivität und Wachstumsförderung hingegen zum Bereich der Wirtschaftspolitik gehören. Diese Sichtweise liegt aber weder im Interesse der Beschäftigten, noch der Ausgegrenzten – sie ist schlicht falsch.

Das Sozialstaatskonzept, das hinter den ersten Schritten der Agenda 2010 steht, muss konsequent weiterentwickelt werden. Es ist überzeugend und wird sich durchsetzen, weil es von seiner Philosophie und seinen praktischen Instrumenten präventiv, aktivierend und investiv angelegt ist. Neben den bereits seit 1998 vorgenommenen Veränderungen bei der Alterssicherung und in der Familienpolitik stellen die aktuellen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen erste Schritte einer wirklich durchgreifenden Veränderung des Sozialstaats der Nachkriegszeit dar. Es geht um Verteilungs- und Chancengerechtigkeit, um den konsequenten Abbau von Faktoren, die für die Ausgrenzung von Menschen aus Arbeit und Gesellschaft verantwortlich sind, um die konkrete Gleichstellung von Männern und Frauen, von Aus- und Inländern, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie um gleiche Entwicklungs- und Bildungschancen für alle Kinder. Das Sozialstaatsgebot und der Kampf um die Menschenwürde werden durch dieses Konzept nicht aufgegeben, sondern konsequent und nachhaltig verfolgt.

Wir müssen allerdings darauf drängen, dass der Paternalismus des „fürsorglichen Wohlfahrtsstaates“ nicht vom Paternalismus des „erhobenen Zeigefingers“ abgelöst wird.

2 Der Sozialstaat der Zukunft

Wir brauchen nicht weniger Sozialstaat, sondern einen anderen und intelligenteren. Unsere Sozialsysteme werden wir nicht mehr allein daran messen können, wie hoch die finanziellen Transfers sind, die er organisiert. Sondern es geht darum, wie aktivierende und investierende Hilfen für Menschen ganz konkret eingesetzt werden.

Unser heutiges Sozialstaatsmodell beruht immer noch auf den Prinzipien der klassischen industriellen Arbeitsgesellschaft, wo garantierte Vollbeschäftigung für den männlichen Teil der Bevölkerung, das Normalarbeitszeitverhältnis sowie eine lebenslange, ununterbrochene Erwerbsbiografie in einem Beruf noch selbstverständlich waren. Das ist Geschichte.

Einst reichte es aus, dass der Sozialstaat seine Funktion als „soziales Netz“ erfüllte. Heute dagegen, in einer komplett veränderten Welt, bräuchten wir weit mehr als ein soziales „Netz“ – nämlich ein „Trampolin“, das die Menschen zurück in die Erwerbsarbeit katapultiert.

Leider wirkt der heutige Sozialstaat aber nur in Ausnahmefällen als „Trampolin“. Denn er wurde für die beiden sich entgegenstehenden Alternativen „Sozialleistung“ oder „Normalarbeitsverhältnis“ konzipiert. Längst aber ist der Sprung in ein Normalarbeitsverhältnis für viele Menschen zu groß geworden. Und ein allmählicher Einstieg in die Erwerbsarbeit ist unserem Sozialsystem bislang wesensfremd. Wer eine Beschäftigung annimmt, verliert deshalb weitgehend seine Ansprüche auf Sozialleistungen: Die Menschen sind gefangen in der „Armutsfalle“.

Deswegen müssen finanzielle Leistungen grundsätzlich so gestaltet werden, dass sie mit einem Erwerbseinkommen kombinierbar sind. Die Verminderung der Leistungen an den Einzelnen darf immer nur schrittweise geschehen und muss sowohl den Einstieg als auch langfristigen Verbleib in einer Erwerbstätigkeit belohnen.

Wer nicht in der Lage ist, erwerbstätig zu sein, braucht und bekommt staatliche Unterstützung. Mit der Einführung der Grundsicherung haben wir dafür einen richtigen Schritt hin zu einem menschenwürdigen Umgang mit Älteren oder behinderten Menschen gemacht, die dauerhaft nicht erwerbsfähig sein können. Und für uns ist auch klar: Wer Unterstützung und Hilfe zu einer neuen Chance braucht, muss diese bekommen, auch mehrmals im Leben. Nicht das neoliberale „Jeder ist seines Glückes Schmied“ gilt, sondern „Hilfe zur Selbsthilfe“; „Fördern und Fordern“ ist unsere Leitlinie.

Insgesamt brauchen wir einen Umstieg von einem abgabenfinanzierten auf einen steuerfinanzierten Sozialstaat. Immer noch belohnen wir den Abbau von Arbeitsplätzen mit einer Art „Prämie“, nämlich die Entlastung von den Lohnnebenkosten, die ein Betrieb nach Entlassungen einspart. Gerade im Vergleich mit unseren EU-Nachbarn sind bei uns die auf dem „Faktor Arbeit“ lastenden Abgaben zu hoch, während die Steuerlast – insbesondere im Bereich der indirekten Steuern – moderat ist.

Wir brauchen eine steuerfinanzierte, bedarfsabhängige Grundsicherung als Basis unseres Sozialsystems. Wer zeitweise nicht erwerbstätig sein kann, braucht eine verlässliche Grundlage für die eigene soziale Sicherung. Und vor allem: Er und sie benötigen eine lohnende Perspektive, um wieder in die Erwerbstätigkeit einzusteigen. Wir brauchen deshalb die Neujustierung des „Drei-Säulen-Modells“ aus steuerfinanzierter Grundsicherung, beitragsfinanzierter anteiliger Sicherung des erreichten Lebensstandards plus Leistungen aus der geförderten betrieblichen und privaten Vorsorge. Die Aussicht auf Rentenzahlungen, die unterhalb eines Sozialhilfeniveaus liegen, sind genauso beschäftigungshemmend und ungerecht wie eine Steuerklasse V, die besonders Frauen ungeheuer hohe Steuerabzüge auferlegt.

Es muss uns gelingen, mehr Jobs zu schaffen. Dies ist nicht durch gelegentliche, populistisch anmutende Zwangsmaßnahmen gegen Arbeitslose zu bewerkstelligen. Sozialpolitik nicht als primär karitative Aufgabe, sondern als Bestandteil der Wirtschaftspolitik zu sehen, hat dagegen durchaus einen arbeitsplatzschaffenden Effekt. Zumal damit auch ein Wachstumsschub verbunden wäre, denn die vergleichsweise geringe Zahl von Arbeitsplätzen in Deutschland erweist sich im Vergleich zu unseren Nachbarn als Konjunkturhemmnis.

Neue Jobs müssen dabei auch im Niedriglohnbereich, gerade im Dienstleistungssektor, entstehen. Da haben wir erheblichen Nachholbedarf. Wenn wir durch die Festsetzung eines gesetzlichen Mindestlohnes Dumping verhindern, schaffen wir eine Vielzahl neuer Einstiegsmöglichkeiten in den Arbeitsmarkt.

Wir sind der Überzeugung, dass wir um den Weg niedrig bezahlter Jobs, die mit Sozialtransfers verknüpft sein können, auch dauerhaft nicht herumkommen. Denn die Alternative wäre, ganze Stadtteile und dort aufwachsende Generationen von der gesellschaftlichen Entwicklung abzukoppeln.

Aber es geht nicht nur um gering bezahlte Arbeit und neue Beschäftigungssektoren, sondern auch um eine bessere Verteilung der Arbeit. In Deutschland arbeitet der Einzelne im EU-Vergleich eher zu viel als zu wenig. Der Grund dafür ist die geringe Verbreitung von Teilzeitarbeit, insbesondere bei den Männern. Auch dabei ist unser Bismarck’scher Sozialstaat ein Hemmschuh, da er die Vollzeitarbeit bevorzugt.

Teilzeittätigkeiten und – im Sinne der Erwerbstätigen – flexiblere Arbeitszeiten sind für eine familienfreundlichere Gesellschaft unerlässlich. Der Rückgriff auf das Bild eines rund um die Uhr seinem Betrieb zur Verfügung stehenden Angestellten entzieht einer modernen Gesellschaft die Zukunftsperspektive. Denn so werden die Kinder in den durch Erwerbslosigkeit geprägten Stadtteilen an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt.

Gerade in der Familienpolitik wird deutlich, wie wenig finanzielle Transferzahlungen – bei denen Deutschland weit oben steht – bewirken. Direkte Hilfen, ein Ausbau der Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur auf das Niveau unserer EU-Nachbarn, hätten allemal einen größeren Effekt für die Zukunft unserer Gesellschaft. Das würde dem sich wandelnden Rollenverständnis von Frauen und Männern sowie einer echten Chance auf gleichberechtigte Teilhabe an Familie, Arbeit, Karriere, Freizeit und gesellschaftlichem Engagement gerecht werden.

aus:
Die neue SPD: Menschen stärken – Wege öffnen, herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2004

Sammelband „Die neue SPD“

17.3.04

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