Berlin

„Wir hingen viel zu lange einem Jugendwahn nach“

Kerstin Griese fordert im Gespräch mit der Westdeutschen Zeitung einen Mentalitätswechsel: Auch ältere Arbeitnehmer brauchen eine Chance

Noch ehe Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) sein Konzept für ältere Arbeitslose vorlegt, verlangt die SPD-Abgeordnete Kerstin Griese, Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, konkrete Schritte. Die Politik müsse Anreize für Unternehmen abschaffen, Ältere zu entlassen. Bei der vorgezogen Rente mit 67 Jahren empfiehlt sie flexible Lösungen.

Frau Griese, ein Viertel der Arbeitslosen sind über 50 Jahre alt. Was könnte aus Ihrer Sicht getan werden, damit sich für diese die Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen?

Griese: Wir brauchen einen Mentalitätswandel. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft hingen viel zu lange beinahe einem Jugendwahn nach. In einer großen Zahl von Betrieben gibt es kaum noch einen Arbeitnehmer, der älter als 50 ist. Das kann nicht sein – und die Wirtschaft wird dies in der Zukunft spüren. Durch den Geburtenrückgang werden immer weniger Junge auf den Arbeitsmarkt drängen – kluge Unternehmer werden auf die Erfahrungen und Qualifikationen der Älteren nicht mehr verzichten können.

Kann es politischen Druck auf Unternehmen geben, ältere Mitarbeiter nicht mehr zu entlassen? Sollten Instrumente wie Altersteilzeit abgeschafft werden, damit sich Firmen nicht auf Kosten der Arbeitslosenversicherungen und des Steuerzahlers von Beschäftigten trennen können?

Griese: Zunächst einmal müssen wir die Anreize, ältere Mitarbeiter zu entlassen, abschaffen. Viel zu viele Firmen haben auf Kosten der Allgemeinheit ihre Belegschaft drastisch verjüngt. Wobei ich gar nicht gegen Altersteilzeit bin. Ein fließender Übergang zwischen dem Arbeitsleben und den Ruhestand erscheint mir sinnvoll. Aber man darf damit noch nicht bei 50-Jährigen beginnen.

Sind Zuschüsse für Firmen sinnvoll, die ältere Arbeitnehmer einstellen? Spätestens dann, wenn die Zuschüsse nicht mehr fließen, stehen die Älteren doch wieder auf der Straße.

Griese: Wir haben bereits eine ganze Reihe an Fördermaßnahmen, gerade für ältere Langzeitarbeitslose. Diese Programme werden leider nur sehr wenig von der Wirtschaft wahrgenommen. Das liegt oft gar nicht an der Befristung der Maßnahmen, sondern an einer mangelnden Akzeptanz von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Arbeitsminister Franz Müntefering erarbeitet zur Zeit ein Konzept „50 plus“. Worauf kommt es Ihrer Meinung nach bei diesem Konzept an?

Griese: Renate Schmidt hatte als Familienministerin viel Erfolg mit ihrer Initiative „Allianz für Familie“, für die sie in der Wirtschaft Kooperationspartner fand. Dabei sind viele familienfreundliche Unternehmen entstanden, die jetzt als Modell und Vorbild für andere dienen. Ähnlich könnte ich mir auch eine Initiative für Ältere vorstellen. Wir können einen Mentalitätswandel schließlich nicht durch gesetzliche Maßnahmen erzwingen. Sondern die Wirtschaft muss merken, welche Vorteile ihnen eine altersgemischte Belegschaft für die Zukunft bietet. Genauso wie die familienfreundlichen Betriebe eingesehen haben, dass die Bindung oftmals hochqualifizierter junger Mütter und Väter einen ökonomischen Gewinn bedeutet.

Die Rente mit 67 Jahren soll früher als erwartet kommen. Halten Sie die diskutierten Ausnahmeregelungen für Berufe, in denen körperlich schwere Arbeit verrichtet wird, für sinnvoll? Oder verstößt das gegen den Gleichheitsgrundsatz?

Griese: Verfassungsrechtliche Bedenken habe ich keine. Ungleiches lässt sich schlecht gleich behandeln. Schon heute gibt es unterschiedliche Ruhestandsgrenzen, etwa für Polizisten. Ich halte eine Diskussion über Differenzierungen beim Renteneintritt für sehr wichtig, auch die Möglichkeiten flexibler Lösungen sollten mehr in Erwägung gezogen werden. Immer mehr Ältere fühlen sich weder mit 65 noch mit 67 so alt, dass sie keine wichtigen Arbeitsbeitrag für die Gesellschaft mehr leisten könnten.

Wäre es besser gewesen, zuerst ein Angebot für Ältere zu machen und dann die frühere Einführung der Rente mit 67 zu diskutieren?

Griese: Ja. Dafür ist aber auch die Wirtschaft verantwortlich. Ich bin zudem der Überzeugung, dass die Politik auch unangenehme Wahrheiten nicht verschweigen darf.

Die Fragen stellte der Wolfgang Fischer, Berliner Korrespondent der Westdeutschen Zeitung.

Westdeutsche Zeitung

9.2.06

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