Berlin | Positionen

Sozialdemokratischer Aufbruch

Ein Positionspapier von zehn Bundesabgeordneten des Netzwerks Berlin: Kerstin Griese sowie Hubertus Heil, Carola Reimann, Hans-Peter Bartels, Kerstin Griese, Christian Lange, Birgit Roth, Michael Roth, Carsten Schneider, Karsten Schönfeld und Rolf Stöckel

Modernisierung der Programmatik – Erneuerung der Organisation – Generationenwechsel

Die SPD hat als Regierungspartei Tritt gefasst. Es gelingt ihr mehr und mehr, die Grundlinien ihrer Politik zu verdeutlichen. Gleichwohl besteht in der SPD Erneuerungsbedarf. Der Bundesparteitag im Dezember 1999 hat ein neues Grundsatzprogramm in Auftrag gegeben; SPD-Generalsekretär Franz Müntefering hat mit seinen Vorschlägen die Debatte über eine Strukturreform der Partei eröffnet; der Parteivorstand hat im April eine „Zukunftsinitiative Chancen für die Jugend“ gestartet. Damit steht die SPD vor einem grundlegenden Erneuerungsprozess.

I. Zukunft der Programmpartei

Auf der Basis ihrer Grundwerte muss die SPD ein neues politisches Leitbild entwerfen, das den Anforderungen unserer Zeit entspricht. Zu den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, auf die die SPD Antworten formulieren muss, gehören u.a. das Ende der bipolaren Weltordnung nach 1989, die Deutsche Einheit, die neue internationale Verantwortung Deutschlands in Europa und der Welt, die wirtschaftliche Globalisierung und der rasante technische Fortschritt. Zu klären ist die Rolle des Staates wie auch das Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität, von Freiheit und Verbindlichkeit, Flexibilität und Sicherheit. Stärker wird die Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu betonen sein.

Auch weiterhin darf das Grundsatzprogramm der SPD kein dogmatisches Bekenntnis sein. Es muss vielmehr langfristige politische Orientierung geben und als gemeinsame politische Plattform der Partei Identität stiften. Ohne grundsätzliche programmatische Verständigung in der SPD, droht die Politik unserer Partei sich in tagespolitischen Problemlösungsversuchen zu erschöpfen und der politischen Beliebigkeit zu verfallen. Auf dem Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm sollten neue Wege des Dialogs in der Partei und mit breiten Kreisen der Gesellschaft erprobt werden. Ein neues Grundsatzprogramm sollte rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl, also etwa Frühjahr 2002, verabschiedet werden. Es gibt keinen Grund den Beginn der Programmarbeit und den abschließenden Parteitag aufzuschieben.

II. Volkspartei in der Mitte der Gesellschaft

Die Stärke der SPD war und ist ihre Verankerung in der Gesellschaft. Dennoch geht die Bindekraft aller Institutionen des gesellschaftlichen Zusammenhalts in der sich individualisierenden Dienstleistungsgesellschaft zurück. Für die SPD als Volkspartei gilt es, sich wieder stärker in einer Gesellschaft zu verankern, in der sich hergebrachte Strukturen rasant verändern. Dazu gehört, dass sich die Partei, sowohl was ihre Inhalte als auch ihre Organisation betrifft, stärker gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen öffnet, um in der Lebenswirklichkeit der Menschen eine Rolle zu spielen. Die SPD muss Dialogfähigkeit und Präsenz nicht nur gegenüber gesellschaftlichen Organisationen, sondern auch gegenüber Einzelnen, bieten. Dabei sollte sich die SPD der Möglichkeiten der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bedienen. Zudem sollten die SPD-Geschäftsstellen zu Informations- und Servicestationen für die Bürgerinnen und Bürger ausgebaut werden. Darüber hinaus muss sie dafür sorgen, dass die Präsenz und Ansprechbarkeit ihrer Vertreterinnen und Vertreter in den Bereichen der Gesellschaft organisiert wird, die die Partei bisher unzureichend erreicht hat.
Letztlich wird die SPD aber nur dann als Volkspartei eine Zukunft haben, wenn sie programmatisch attraktiv bleibt, sie Probleme löst und sie eine aktive Mitgliederpartei ist.

III. Als Mitgliederpartei bestehende Potentiale aktivieren und neue erschließen

Eine zentrale Aufgabe ist es, die SPD als Mitgliederpartei zu erneuern. Die Mitgliederentwicklung in den nächsten Jahren wird aufgrund der Altersstruktur der Partei negativ sein. Dazu kommt, dass in der Partei immer weniger Mitglieder die Möglichkeiten der Beteiligung finden, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Die Partei sollte diese Entwicklungen nicht als zwangsläufig hinnehmen, sondern ihnen entschieden entgegenwirken. Es gilt, bestehende Potentiale in der SPD-Mitgliedschaft für die Partei stärker zu nutzen und neue Mitglieder zu gewinnen, die bisher, aufgrund von bestehenden Defiziten in der Ansprache und einer weitgehend fehlenden professionellen Mitgliederwerbung, noch nicht erreicht wurden.
Vielfach bleibt der Sachverstand von Mitgliedern ungenutzt, weil ihnen die Möglichkeit der zeitlich und thematisch begrenzten Teilhabe fehlt. Oft scheitert die Nutzung des Sachverstandes der Mitglieder durch die Vertreter in den Parlamenten auf allen Ebenen schlicht an der Unkenntnis der Potentiale und Fähigkeiten, die bei Mitgliedern aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit oder ihres anderweitigen Engagements vorhanden sind. Um dies zu ändern, ist es notwendig, dass künftig, zumindest alle zwei Jahre, per Abfrage in der Mitgliedschaft (bei Neumitgliedern selbstverständlich direkt bei ihrem Eintritt) diese Potentiale für die Funktionsträger in der Partei erhoben werden. Die Funktionsträger müssen dann dafür Sorge tragen (und in der Lage sein), diese Potentiale entsprechend für die Partei nutzbar zu machen.
Für die Auswahl des politischen Führungspersonals der Partei und die Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten für Wahlen sollte sich die Partei auf gezielte Leitlinien verständigen, die auf eine Verjüngung und eine möglichst breite gesellschaftliche Repräsentanz abzielen. Auch die Kandidatur von Nichtparteimitgliedern sollte in Einzelfällen verstärkt in Betracht gezogen werden, um diese Ziele zu erreichen. Über die Kandidaturen um öffentliche Mandate auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene sollten Mitgliederversammlungen und nicht Delegiertenkonferenzen entscheiden. Gegen Vorwahlen nach amerikanischem Vorbild sprechen die Unvereinbarkeit mit dem personalisierten Verhältniswahlrecht in Deutschland, der beträchtliche Aufwand und die Befürchtung, dass sich finanzkräftige Bewerber bessere Möglichkeiten verschaffen können. Darüber hinaus muss gewährleistet sein, dass Entscheidungen und die daraus resultierende Verantwortung in einer Hand bleiben.
Für die Reform der Partei sind die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der SPD von entscheidender Bedeutung. Es ist notwendig, diese durch gezielte Qualifikation und klare Berufsbilder in die Lage zu versetzen, die neuen Aufgaben, die durch eine reformierte Parteistruktur auf sie zukommen, optimal erledigen zu können.
Den Mandats- und Funktionsträgern der Partei müssen darüber hinaus Möglichkeiten der professionellen Politikberatung zugänglich gemacht werden. In diesem Zusammenhang gilt es mit der Friedrich-Ebert-Stiftung, aber auch über Kontakte zu anderen Stiftungen und der Wissenschaft, Orte zu eröffnen, wo außerhalb tagespolitischer Zwänge in die Zukunft gedacht werden kann. Dabei muss sichergestellt werden, dass Ergebnisse und Überlegungen aus diesen „think tanks“ und Netzwerken auch in die politischen Entscheidungen einfließen.

IV. Die Jugend gewinnen

Die älteste demokratische Partei Deutschland hat in mehrerlei Hinsicht ein „Jugendproblem“. Nur etwa 80.000 SPD-Mitglieder sind heute jünger als 35 Jahre (in den 80er Jahren waren es noch mehr als 300.000), vielerorts sind Gremien und Fraktionen der Partei überaltert. Auch bei jüngeren Wählerinnen und Wählern hat die SPD ein starkes Mobilisierungsproblem. Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen lag die Partei bei jüngeren Wählerinnen und Wählern um 10 Prozent unter ihrem Gesamtergebnis.
Noch wird die Sozialdemokratische Partei geprägt, geführt und nach außen fast vollständig repräsentiert durch die Generation der 50- bis 60-Jährigen. Weil diese (Enkel-) Generation selbst lange genug gebraucht hat, um Führungsaufgaben in der Partei und schließlich im Land zu übernehmen, wurden lediglich Jüngere zum Objekt sozialdemokratischer „Jugendpolitik“. Mit den Beschlüssen des Kölner Parteitages 1996 zur stärkeren Beteiligung junger Menschen an Mandaten (zehn Prozent der Listenplätze) ist ein Umdenken eingeleitet worden. Der neuen Bundestagsfraktion gehören – nicht zuletzt auch wegen des insgesamt guten Wahlergebnisses – schon 36 Abgeordnete unter 40 Jahren an.

Es muss aber in Zukunft noch sichtbarer werden, dass die SPD sich nicht nur um junge Leute als Wählerinnen und Wähler bemüht, sondern dass Jüngere auch in der Partei selbst mitbestimmen über sozialdemokratische Politik und Jüngere auch für die SPD sprechen. Zur Gewinnung jüngerer Mitglieder, Funktions- und Mandatsträger verhilft jedoch am wenigsten die Anbiederei an vermeintlich coole „Jugend"-Sprache und –Mode. Die SPD sollte sich nicht billig machen, sondern sie sollte das Besondere, das Wertvolle, die Anstrengung des demokratischen Engagements betonen. Was die SPD ansprechen muss, sind Verantwortungsbewusstsein, Solidaritätsbereitschaft und Veränderungswille der jungen Menschen. Davon ist auch heute weit mehr vorhanden, als manche sich vorstellen können.
Deshalb sollte die SPD neben der Förderung des vorhandenen und ernsthafter Werbung um neuen Nachwuchs dafür sorgen, dass die politische Bildung, die Aneignung und Einübung der Spielregeln unserer Demokratie in den Schulen einen neuen verbesserten Stellenwert erhält. Tatsächlich fallen das Gerede über Politikverdrossenheit, unpolitische Jugend und Werteverlust einerseits und die aktive Bildung zur Demokratie andererseits heute immer weiter auseinander. Die Mittel für die freien Träger der politischen Jugendbildung müssen in Kommunen, Ländern und Bund endlich wieder erhöht, der politisch bildende Unterricht in den Schulen sollte vervielfacht werden. Es ist die richtige Zeit für eine Demokratieinitiative.

Die Erneuerung der Partei jetzt diskutieren und umsetzen

Die Zeit für eine grundlegende Erneuerung der SPD ist reif. Die Vorschläge von Franz Müntefering sollten zusammen mit der anstehenden Programmdebatte als ein Startschuss für diesen Prozess begriffen werden. Mit diesem Papier wollen wir dazu einen ersten Beitrag leisten. Die gesamte Partei ist aufgerufen, sich an der Erneuerung der SPD aktiv zu beteiligen.

2.6.01

Home