Niederberg/Ratingen

Wut – Bürger? Mut und Bürger!

Vom Grundgesetz zum Bürgerentscheid: Engagement für die Demokratie

Im Niederbergischen Museum: PolitikTreff der Wülfrather SPD am Tag des Grundgesetzes.

von Kerstin Griese

Vielen Dank für die gute Idee der Wülfrather SPD, am 23. Mai 2011 daran zu erinnern, dass genau vor 62 Jahren das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom Parlamentarischen Rat beschlossen wurde. Das Grundgesetz ist unsere Verfassung und es ist nach zwei Weltkriegen und dem Terror des Nationalsozialismus entstanden, um die Demokratie zu sichern. Das war bisher erfolgreich, noch nie gab es so lange Frieden und Demokratie in Deutschland.
Und ein zweites Dankeschön: für den Kontrast, die Wut-Bürger, das „Wort des Jahres 2010“, und den nötigen Mut, mit dem die SPD Wülfrath in ihrer Einladung titelt. Das ist eine durchaus selbstkritische Anfrage an die Politik und sie ist sicherlich notwendig in Zeiten immer weiter sinkender Wahlbeteiligung.
Ich will an den Tag des Grundgesetzes erinnern und dann den Bogen schlagen zur aktuellen Debatte um Bürgerproteste und Bürgerbeteiligung, auch unter dem Stichwort „Wut-Bürger“, um am Ende ein paar Gedanken zur Zukunft unserer Demokratie und zum politischen Engagement zur Diskussion zu stellen und das eher unter der Überschrift „Mut: Bürger!“.

 1. Der Tag des Grundgesetzes 

Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren 1948 und 1949 zusammen gekommen, um die Lehren aus der Geschichte zu ziehen und ein neues Grundgesetz, das erst einmal ein vorläufiges sein sollte und daher nicht offiziell „Verfassung“ hieß, zu entwickeln. Es waren viele Väter des Grundgesetzes, von denen immer die Rede ist. Ganz besonders will ich erinnern an die wenigen „Mütter des Grundgesetzes“. Es waren nur vier Frauen unter den 65 Mitgliedern des Parlamentarischen Rates. Der Sozialdemokratin Elisabeth Selbert ist es dabei zu verdanken, dass sie gegen große Widerstände die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Artikel 3 Absatz 2 durchgesetzt hat.
Zunächst wurde das Grundgesetz übrigens am 8. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat nur mehrheitlich mit 53 zu 12 Stimmen angenommen, die CSU, die Deutsche Partei, die Zentrumspartei und die KPD stimmten dagegen. Es musste außerdem von den schon gebildeten Ländern angenommen werden, und die Bayern stimmten dagegen. Übrigens deswegen, weil Bayern weniger Einfluss der Bundesebene wollte.
Nach der Ratifizierung durch alle anderen Bundesländer wurde das Grundgesetz dann aber am 23. Mai 1949 in einer feierlichen Sitzung des Parlamentarischen Rates verkündet und trat in Kraft. Damit war die Bundesrepublik Deutschland gegründet.
Der Tag des Grundgesetzes – und die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung und Volksbefragungen oder Volksentscheiden. Ist das nicht ein Widerspruch? Ich meine: Nein. Und zwar im Bewusstsein der Geschichte. Das Grundgesetz setzt nahezu ausschließlich auf die repräsentative parlamentarische Demokratie. Aus gutem Grund, gelernt aus der Geschichte. Es war tatsächlich „Angst vor der Stimme des Volkes“, die die Verfassungsväter und -mütter als Lehre aus den Plebisziten der Weimarer Republik zogen.
Deshalb war es auch so wichtig, die Grundrechte und die wichtigsten Staatsprinzipien im Grundgesetz zu verankern: Demokratie, die Staatsform der Republik, der Sozialstaat, der Föderalismus im Bundesstaat, die Gewaltenteilung und die Sicherheit eines Rechtsstaates gehören dazu. Die in Artikel 1 (Menschenwürde) und Artikel 20 festgelegten Grundsätze, also der Kern staatlicher Grundordnung und der Grundrechte, dürfen in ihrem Wesensgehalt durch die verfassungsändernde Gewalt nicht geändert werden.
Unser Grundgesetz sieht die zentrale Rolle zur Sicherung der Demokratie beim Parlament. Auch das ist eine Erfahrung aus der Weimarer Republik, wo der Staatspräsident weitaus größeren Einfluss hatte als heute unser Bundespräsident.
Parteien sind nunmehr durch das Parteienprivileg in Artikel 21 geschützt und können dadurch nur durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verboten werden. Das Grundgesetz weist ihnen die Aufgabe bei der politischen Willensbildungdes Volkes zu, verlangt aber, dass ihre innere Ordnung demokratischen Grundsätzen entspricht.
Auch als Historikerin sage ich: Das Grundgesetz muss man als ein Dokument sehen, dass geschichtlich eingeordnet richtig verstanden werden muss. Es ist eine sehr gute Grundlage für die stabile Demokratie, die wir in Deutschland haben. Und das heißt: manches muss auch geändert werden können, muss in die heutige Zeit übersetzt und aktualisiert werden.
Es ist gut, dass man eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag braucht, um das Grundgesetz zu ändern. Denn eine Erfahrung ist auch, dass es in wichtigen Fragen eine breite Mehrheit geben muss. Auch wenn es einen manchmal ärgert, wenn man diese Mehrheit für eine Änderung noch nicht hat. Ich halte es zum Beispiel für sehr wichtig, die Kinderrechte explizit ins Grundgesetz aufzunehmen und ärgere mich immer wieder darüber, dass CDU/CSU und FDP dem nicht zustimmen wollen.
Das Grundgesetz ist seit 1949 mehrere Male geändert worden. Und oft aus nichtigerem Grund, als Volksabstimmungen zuzulassen. 62 Jahre später gibt es gute Argumente für mehr Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger.

 2. Wut-Bürger: Aktuelle Debatte
 um Bürgerproteste und Bürgerbeteiligung 

Aber seit neuestem gibt es ein Phänomen, das durch die Zeitungen geistert: der „Wut-Bürger“. Der Wutbürger wurde von der Gesellschaft für Deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2010 gewählt. In der Begründung heißt es: „Diese Neubildung wurde von zahlreichen Zeitungen und Fernsehsendern verwendet, um einer Empörung in der Bevölkerung darüber Ausdruck zu geben, dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden Das Wort dokumentiert ein großes Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, über ihre Wahlentscheidung hinaus ein Mitspracherecht bei gesellschaftlich und politisch relevanten Projekten zu haben“.
Geprägt wurde das Wort vom Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit. Er schrieb im Oktober ein Spiegel-Essay unter dieser Überschrift: „Der Wutbürger“. Dort heißt es im Spiegel-typischen Jargon: „Der Wutbürger bricht mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehört, also Gelassenheit, Contenance. Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker.“
Und weil das so schön provozierend ist, geht es im Spiegel dabei nicht nur um Stuttgart 21 – sondern gleichzeitig um die Sarrazin-Debatte. Kurbjuweit zitierte einen Artikel der Süddeutschen Zeitung über eine Sarrazin-Lesung: „In der Münchner Reithalle herrschte ein Hauch von Sportpalast. Gutgekleidete Grauköpfe ereiferten sich nicht nur, sie geiferten.“ Kurbjuweit beeilt sich zwar zu betonen: „Selbstverständlich gibt es Unterschiede. Wer in Stuttgart brüllt, würde vielleicht nicht für Sarrazin schreien, und umgekehrt.“ Trotzdem bleibt der Spiegel bei seinem seltsamen Vergleich und versucht, Parallelen zu finden.
Nicht allen gefällt das gezeichnete Bild vom angeblich reaktionären Wutbürger. So erschien im Spiegel ein zweites Essay, geschrieben von Barbara Supp: „Die Mutbürger“ heißt es diesmal. Und sie hat recht. Das Demonstrationsrecht ist ein freiheitliches Grundrecht. Es gehört zu Demokratie. Und wer hat verhindert, dass es einen Schnellen Brüter in Kalkar oder eine Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf gab? Das Demonstrationsrecht. Es waren außerparlamentarische Bewegungen, die in den achtziger Jahren mitgeholfen haben, dass sich die Anti-Atomkraft-Linie in der SPD durchgesetzt hat. Dies war die Grundlage dafür, dass die Regierung Gerhard Schröders im Jahr 2000 den Atomausstieg im so genannten Atomkonsens verkünden konnte.
Der Wut-Bürger – medial überzeichnet – ist ein Anlass, dass gerade heute mehr über Bürgerbeteiligung nachgedacht wird. Stuttgart 21 wurde zum Sinnbild als Monstrum einer bürgerfernen Politik. Wer hat das eigentlich beschlossen? Wer hat letztlich entschieden, dass der Baubeginn nach jahre- und jahrzehntelanger Debatte 2010 Wirklichkeit wurde? Wenn das jemand wüsste – im Geflecht aus verschiedenen Parlamenten, Regierungen und einer Bahn AG im Bundesbesitz ist dies schwierig genau festzulegen, die Zusammenhänge sind manchmal undurchschaubar.
Wir hier kennen das Problem mit der CO-Pipeline von Bayer, die lange beschlossen war, bevor sich der Bürgerprotest – zu Recht! – regte und zahlreiche Mängel entdeckte.
Bei Stuttgart 21 sieht man schon ein Problem von Bürgerentscheiden. Wer soll eigentlich abstimmen? Nur die Stuttgarter, denen die dortige Kommunalpolitik die städtebaulichen Vorteile der Tieferlegung ihres Bahnhofes offensichtlich nicht vermitteln konnte? Diejenigen Nicht-Stuttgarter, die die von einem schnelleren Durchgangsbahnhof profitieren würden? Oder auch wir in NRW, wenn aus unserer Sicht das Geld viel besser in einer Verbesserung unseres Regionalverkehrs angelegt wäre?

 3. Mut-Bürger: Zur Zukunft unserer Demokratie
 und des politischen Engagements 
 

Aber ich will hier gar nicht näher auf die Details des Stuttgarter Bahnhofs eingehen, sondern grundsätzlicher werden. Der Ruf nach Volksbefragungen ist natürlich auch eine Folge des Vertrauensverlustes den Parlamenten und Parteien gegenüber. Und das heißt: hier muss sich etwas ändern – und das ist auch eine Aufgabe der SPD. Da Volksentscheide ja bestenfalls eine Ergänzung sind, gibt es keine Alternative zu attraktiveren Parteien. Wie müssen uns öffnen. Auch für diejenigen, die sich nur punktuell engagieren wollen, die nicht die berühmte „Ochsentour“ beim stellvertretenden Schriftführer beginnend ableisten möchten. Für diejenigen, die bei wichtigen Fragen mitbestimmen wollen – aber dabei das große Ganze im Blick haben. Wir stehen nicht für Partikularinteressen, sondern haben eine Idee, eine Vorstellung für eine gerechtere und solidarischere Gesellschaft.
Das große Problem unserer Demokratie im 62. Jahr unseres Grundgesetzes ist, dass die Schichten der Benachteiligten immer öfter nicht mehr teilnehmen. Sie bleiben den Wahlen fern – und noch mehr den Bürgerentscheidungen. Bei bundesweiten Volksentscheiden wäre dies nicht anders. Je niedriger die Beteiligung – und sie ist bei Bürgerentscheiden durchgängig niedriger als bei Wahlen – desto höher der soziale Ausschluss bestimmter Interessen und Gruppen.
Volksentscheide werden oft gar nicht vom Volk initiiert. Es sind diejenigen, die kampagnenfähig sind: starke politische Organisationen und wirtschaftliche Interessengruppen. Und: Volksentscheide sind im Ergebnis konservativer, neoliberaler oder auch rechtspopulistisch – das wissen wir aus der Schweiz und aus dem vom Volk in den Bankrott getriebenen Kalifornien. Steuererhöhungen können dort vom Parlament nur noch mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit entschieden werden, während Steuersenkungen dem Bürger leicht von der Hand gehen. Wer nicht auf den Staat und soziale Transfers angewiesen ist, kann damit leben.
Ein Blick nach Deutschland: Die Volksabstimmung in Hamburg zur Schulgliederung zeigte deutlich, dass sich hier das gut situierte Bürgertum mit seiner Privilegienwahrung durchgesetzt hat. 21 Prozent der Hamburger stoppten die schwarz-grüne Schulreform. In NRW gab es bereits 1978 ein Volksbegehren gegen die Kooperative Schule (Stopp Koop), mit dem die CDU der vom Ministerpräsidenten Heinz Kühn geführten Landesregierung eine empfindliche Niederlage zufügte. Das hat uns in NRW für lange Zeit die Freude an mehr Volksentscheiden verdorben und jede Weiterentwicklung in der Schulpolitik unmöglich gemacht. Deshalb ist es gut, dass die neue rot-grüne Landesregierung mit Hannelore Kraft und Silvia Löhrmann jetzt so behutsam vorgeht und dass die Kommunen entscheiden, ob sie eine Gemeinschaftsschule wollen.
Wir brauchen mehr Bürgerbeteiligung, aber wir brauchen auch mehr Wertschätzung für die Arbeit von Parteien und Parlamenten, vom Stadtbezirk bis Europa. Und wir brauchen ganz besonders mehr Wertschätzung und Unterstützung für die Menschen, die sich dort – meistens ja ehrenamtlich – engagieren. Ich sage das auch deshalb, weil Parteien den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, nicht nur punktuell zu entscheiden, sondern einen Wertehintergrund, im besten Sinne „eine Gesinnung“ zu wählen. Nur das bedeutet Nachhaltigkeit.
Wir haben in unseren Städten immer mehr Wählervereinigungen, die sehr punktuelle Interessen vertreten. Es wird teilweise sehr unübersichtlich in den Stadträten, allein Wülfrath mit seinen sechs Fraktionen im Stadtrat zeigt das. Aber ich frage mich oft, wo bleibt da die Erkennbarkeit, die Wertegrundlage und die Nachhaltigkeit in der Politik, die ja auch auf der kommunalen Ebene nicht nur von der nächsten Entscheidung abhängt, sondern auch von einer Idee, wie man in einer Stadt zusammen leben will.
Sicher müssen die Parteien noch mehr tun, um zu vermitteln wofür sie stehen. Manchmal müssen sie das übrigens auch erst einmal intern genauer klären. Es muss klar sein: Wo SPD drauf steht, da ist soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche und ökologische Vernunft drin. Dass man damit auch wieder Wahlen gewinnen kann, wenn man bürgernah bleibt, das haben die letzten Landtagswahlen bewiesen.
„Der Verbindung von aktivierendem Staat und aktiver Zivilgesellschaft dient auch die direkte Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger durch Volksbegehren und Volksentscheide“, heißt es im Grundsatzprogramm der SPD. Ich bin überzeugt: Referenden und Volksentscheide haben eine vitalisierende Wirkung auf unsere repräsentative Demokratie. Unser Hamburger Programm sagt: „In gesetzlich festzulegenden Grenzen sollen sie die parlamentarische Demokratie ergänzen, und zwar nicht nur in Gemeinden und Ländern, sondern auch im Bund. Wo die Verfassung der parlamentarischen Mehrheit Grenzen setzt, gelten diese auch für Bürgerentscheide.“

Deshalb drei Appelle zum Schluss an diesem Grundgesetz-Geburtstag:
Liebe Bürgerinnen und Bürger, habt Mut, euch zu engagieren! Es ist gut für unser Gemeinwohl und es ist gut für jeden Einzelnen, denn unsere Städte brauchen engagierte Menschen und jeder kann daran mithelfen, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und unsere Welt ein bisschen besser zu machen. Und nebenbei macht es auch noch Freude, sich mit anderen und für andere zu engagieren.
Liebe politisch Engagierte in Parteien, habt Mut und seid selbstbewusst! Es ist gut, sich in einer Partei zu organisieren – am besten natürlich in der ältesten und schönsten Partei Deutschlands, die 2013 150 Jahre alt wird. Ich meine es ernst: Parteien sind ein wichtiger Ort zur Auseinandersetzung, zur Meinungsfindung im gemeinsamen Interesse und es ist nicht ohne Grund, dass sie eine wichtige Rolle in unserer Verfassung spielen.
Liebe SPD, hab Mut, dich zu deinen Stärken zu bekennen! Ja, wir haben auch Fehler gemacht. Aber wir sollten mehr Mut haben über das zu sprechen, was wir richtig gemacht haben. Wir haben es in den Jahren unserer Regierung geschafft, aus der Atomenergie auszusteigen, die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen, flächendeckend Ganztagsschulen einzuführen, die Kinderbetreuung auszubauen, ein neues Staatsangehörigkeitsrecht einzuführen, Deutschland international verantwortungsvoller und selbstbewusster zu machen. Die SPD wird gebraucht, hier in Wülfrath ebenso wie in NRW, im Bund und in Europa.

PolitikTreff am Tag des Grundgesetzes, 23. Mai 2011, im Niederbergischen Museum Wülfrath

24.5.11

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