Berlin

Ohne Maß und Mitte

Jürgen Leinemann („Höhenflüge“), Egon-Erwin-Kisch-Preisträger, schreibt im Spiegel (45/05) über den Drang der Jüngeren nach oben (Auszüge):

Es begann damit, dass die Kampfabstimmung um den Kandidaten für das Amt des Generalsekretärs zwischen Kajo Wasserhövel, dem Bundesgeschäftsführer, und der Abgeordneten Andrea Nahles zum Großereignis aufgeblasen wurde. Schon die Tatsache, dass die Rheinland-Pfälzerin im SPD-Vorstand als Gegenkandidatin antrat, löste so giftige Proteste aus, als wären demokratische Verfahrensweisen neuerdings in der SPD eine Form des Umsturzes.

Dass es aber um mehr ging als um eine reine Personalentscheidung, signalisierten die emotionale Intensität und die Bösartigkeit der Klischees und Diffamierungen auf beiden Seiten. Trafen da nur „der Loyale“ auf „die Ambitionierte“, der „Organisations-Stalinist“ auf die „linke Karrieristin“? Oder ging es um die Große Koalition in Berlin, den immer größer werdenden Vorsitzenden Franz Müntefering, wenn nicht gar um Deutschland?

Es waren nicht nur Junge, die Münteferings Mann im Vorstand ablehnten, sondern auch Ältere wie die scheidenden Ministerinnen Renate Schmidt und Edelgard Bulmahn sowie die Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann. Dass es dennoch eine Generationsentscheidung wurde, lag am Partei-Establishment. Es war die Altherrenriege – von „Münte“ und Schröder bis Ludwig Stiegler und Hans Eichel –, gegen deren autoritäres Machtgehabe sich der Widerstand richtete.

Gerhard Schröder, kein Zweifel, hat sich mit seinem bravourösen Wahlkampf als Partei-Legende etabliert. „Er verlängerte den Weg der SPD ins 21. Jahrhundert“, schwärmt die Abgeordnete Kerstin Griese, 38. Dennoch stimmte sie gegen seinen Rat im Vorstand für Andrea Nahles. Schon jetzt, sieben Wochen nach der Wahl, ist der furiose Heroismus des Kanzlers Geschichte, Schröder selbst Vergangenheit.

Für die Jungen hat der Rückzug des Kanzlers und einiger seiner Minister ein Signal zum Griff nach der Macht gesetzt. Der Unmut, der sich nach dem Müntefering-Rücktritt in der vergangenen Woche auch gegen die Parteilinke Heidi Wieczorek-Zeul richtete, zeigt, wie erleichtert viele sind, dass die Zeit der Brandt-Enkel und Alt-68er endgültig abgelaufen scheint. Die „rote Heidi“ wird für den SPD-Vizevorsitz nicht mehr kandidieren.

Die alte Garde der ewig Jungen nervte die Nachwachsenden zunehmend. Fünf der sieben Parteivorsitzenden, die Willy Brandt folgten, gehörten zu dieser Generation – Björn Engholm, Jahrgang 39, Rudolf Scharping, Jahrgang 47, Oskar Lafontaine, Jahrgang 43, Gerhard Schröder, Jahrgang 44, und auch – wenngleich anders sozialisiert – Franz Müntefering, Jahrgang 40.

Sie führten sich auf, als wären sie unersetzlich. An jedem Fitzelchen Macht krallten sie sich fest. „Manchmal“, hat sich Gerhard Schröder im vergangenen Jahr vor den „Netzwerkern“ gebrüstet – einer Gruppe pragmatischer junger Abgeordneter, die den smarten Kanzler bewundert – „manchmal guckt man ja, wer so nach einem kommen könnte. Und dann guckt man. Und guckt. Und guckt ... und dann muss man doch weitermachen.“

Das hat sogar seine Fangemeinde provoziert. Jetzt entschieden sich die Netzwerker im Vorstand für Andrea Nahles und damit vor allem gegen Schröders Alterskohorte, die spätestens seit Mitte der neunziger Jahre mit ihrem narzisstischen Overkill den Ton und den Kurs der Partei bestimmte, wenn sie ihn nicht durch unablässige Konkurrenzkämpfe lähmte.

Noch immer besetzen sie heute die überwiegende Mehrzahl der Schlüsselpositionen in der Bundestagsfraktion und der geschäftsführenden Regierung. Ihre Aufregungen und Entrüstungen sind seit langem ritualisiert. Wie sehr, das führte Gerhard Schröder vergangene Woche mit seinem empörten Satz vor, dass manche Parteifreunde leider ihre „persönlichen Karrierewünsche“ vor die Interessen des „großen Ganzen“ stellten. Damit gelang ihm eine Erklärung von selbstentlarvender Komik.

Franz Müntefering rechnete sich eigentlich nie zu dieser ambitionierten Gruppe. Er war etwas älter als die meisten „Enkel“, stieß im Sauerland und ohne Abitur zur SPD.

Auch als sein eigener Parteichef sah sich „Münte“, wie ihn die Genossen liebevoll nannten, weiter im Dienst der SPD. Mit seiner Frisur und seinen drögen Drei-Wörter-Sätzen – „Politik ist Organisation“ – errang er Kultstatus. Jetzt diente er der Ordnung zum Zwecke der Regierungsfähigkeit. Gerade in der Medienwelt von Berlin schien ihm ein untadeliges äußeres Erscheinungsbild der SPD unverzichtbar. Aus diesem Grunde wollte er nun seinen engsten Vertrauten Kajo Wasserhövel als gehorsamen Handlanger.

Mit Andrea Nahles, die er in der Vergangenheit förderte, geriet er darüber in einem Vieraugengespräch heftig aneinander. Bockig sind sie beide, Sauerland prallte auf Vulkan-Eifel, erinnert sich Nahles: „Wir kommen beide aus kargen Gegenden, da sind die Menschen zäh.“

Als er sich dafür entschieden habe, als Parteichef in die Merkel-Regierung einzutreten, sei damit zugleich seine Entscheidung gegen sie als Generalsekretärin gefallen, erklärte der Parteichef der parteipolitisch loyalen, politisch aber eigenständigen Nahles im Gespräch. Sein karger Klassiker „Opposition ist Mist“ kriegte damit eine zwielichtige Bedeutung. Prompt folgerte Nahles denn auch aus seiner Erklärung das Gegenteil: Gerade deshalb, weil Müntefering die Partei möglichst stromlinienförmig in der Großen Koalition funktionieren sehen wollte, fand sie ein Gegengewicht nötig.

Eigene Meinung ist gut. Widerworte sind unerwünscht. Franz Müntefering riskierte die Machtprobe. „Ihr könnt mir glauben, dass ich das Beste für die Partei tun will“, sagte er vor der Abstimmung im Vorstand.

Alle glaubten ihm, dass er das wollte. Aber die Mehrheit bezweifelte, dass sein Weg tatsächlich „das Beste“ garantierte. Franz Müntefering verlor und warf hin – wie einst Lafontaine und wie Schröder nach dem NRW-Debakel. Und plötzlich stand der schlichte und verlässliche „Münte“ zur allgemeinen Überraschung da, wie all die anderen Macht-Egomanen der Enkel-Generation: kommunikationsgestört, autoritär und ein bisschen kindisch.

Hätte er nicht als Parteivorsitzender eine Kampfabstimmung verhindern müssen, deren Ausgang er spätestens am Tag zuvor absehen konnte? Wollte er gar die Niederlage? Vieles deutet darauf hin, dass der pflichtbewusste Müntefering mit der alleinigen Last der Verantwortung für Partei und Koalitionsgespräche überfordert war.

„Münte“ trug und schwieg. Er zelebrierte seine Einsamkeit, wollte „kein Kumpel“ sein. Schon als der Sauerländer im Wahlkampf erschöpft zusammenbrach, war seine Not erkennbar. Sein größtes Hindernis aber blieb, dass er zu den Helfern gehört, die selbst nicht um Hilfe bitten können.

Wer „den Franz“ sah, witterte SPD-Stallgeruch. In Sprache, Kleidung und Umgangsstil repräsentierte er alles, was vom traditionellen Heimatgefühl der alten Genossen übrig war. Für sie verkörperte der biedere Sauerländer die Seele der Partei.

Entsprechend bestürzt und verständnislos reagierte die Basis deshalb auf den Affront des Vorstandes gegen den Vorsitzenden. Selbst Parteifreunde, die früher Widerstand dagegen gefordert hätten, die Partei zum „Kanzlerwahlverein“ zu degradieren, fragten jetzt, ob sie „bekloppt“ seien in Berlin und ob sie „noch richtig ticken“.

Auch Kerstin Griese wird mit Kritik aus dem Wahlkreis eingedeckt. „Jetzt haben alle gewusst, wie Franz Müntefering reagieren würde“, klagt sie. Sie nicht. So wenig wie 22 andere Vorständler, nicht nur naive. Und eine Intrigantin ist Kerstin Griese schon gar nicht. Sie tut sich schwer mit ihrer Verantwortung.

Plötzlich soll Münteferings Rücktritt das Ziel eines Putsches gewesen sein, um damit den Kern der SPD zu treffen. Aber es gibt keinen Kern mehr. Der SPD fehle „Maß und Mitte“, klagt Ute Vogt.

Es war der saarländische Parteivorsitzende Heiko Maas, der die gegenseitigen Schuldzuweisungen relativierte, indem er daran erinnerte, dass die Partei seit Jahren in der Krise stecke, nicht erst seit vergangenem Montag. Bestätigung konnte er aus der „Zeit“ beziehen. Dort schrieb Martin Süskind, der frühere Redenschreiber Willy Brandts: „In Wahrheit befindet sich die deutsche Sozialdemokratie seit einem Vierteljahrhundert in einem Zustand der Uneinheitlichkeit ihrer Überzeugungen und Zukunftssichten.“

Ein Ende ist nicht abzusehen. Franz Müntefering, der sein Verhandlungsmandat für die Große Koalition vom Parteitag selbst absegnen lassen will, wird Vizekanzler werden. Er wirkte am Wochenende entlastet und wieder auf seine undurchschaubare Weise obenauf.

Gewiss, seine strikt zentralistische Linie wurde durch ein nachträglich über sich erschrockenes Bündnis von Frauen, Jungen und Linken im Vorstand erst einmal gestoppt. Aber zum generellen Stabwechsel ist die Alten-Garde noch keineswegs bereit, lieber schlägt sie um sich. Trotzdem empfinden die Jungen letztlich den Wechsel zu Platzeck, den sie nicht geplant hatten, als gut.

Fazit, wie es „Münte“ zu ziehen pflegte: Lage offen, Stimmung Mist. Glückauf.

7.11.05

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