Berlin | Reden

„Wir müssen die Spirale von Armut und mangelnden Bildungschancen durchbrechen“

Kerstin Grieses Rede am 9. März 2006 anlässlich der Bundestagsdebatte über den 12. Kinder- und Jugendbericht

Kerstin Griese (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der zwölfte Kinder- und Jugendbericht: Das sind über 350 Seiten eines starken Plädoyers für mehr Chancen für Kinder und Jugendliche. Das ist zugleich ein Appell an die Politik und an die Gesellschaft insgesamt, die Verantwortung für die Zukunft von Kindern und Jugendlichen wahrzunehmen.

(Abgeordnete der FDP gratulieren der Abgeordneten Miriam Gruß (FDP))

Auch ich gratuliere noch einmal der Kollegin Gruß. Wenn ich das von dieser Stelle aus kollektiv mache, geht es vielleicht schneller.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Ich danke den Mitgliedern der Kommission, die den Zwölften Kinder- und Jugendbericht erstellt hat, und ihrem Vorsitzenden Professor Rauschenbach sie alle hören uns, wie ich glaube, jetzt zu auch im Namen der SPD-Fraktion ganz herzlich für ihre Arbeit und das gute Werk, das sie erstellt haben. Sie haben uns damit viele wichtige Daten und Argumente an die Hand gegeben. Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich danke Ihnen auch für den kommunikativen Prozess, in dem dieser Bericht entstanden ist. Es handelt sich nämlich nicht um einen Bericht, der im stillen Kämmerlein geschrieben wurde, sondern um einen, der mit gesellschaftlichen Gruppen, Verbänden, Fachleuten und auch bei uns im Jugendausschuss im Januar 2005 sehr intensiv und sehr spannend diskutiert wurde. Auch deshalb, weil bei der Erstellung dieses Berichtes enge Kommunikation mit der Politik gepflegt wurde, konnte vieles, was Sie dort entwickelt haben, in die Tagespolitik einfließen und angedacht werden. Die frühere SPD-Regierung hat schon vor Jahren damit begonnen, mehr in Bildung und Betreuung zu investieren, um Kindern früher bzw. mehr Chancen zu geben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin sehr froh und danke Ihnen, Frau Ministerin von der Leyen, dass sich dieser Ansatz wie ein roter Faden durch unsere gemeinsamen Vereinbarungen für die Kinder-, Jugend- und Familienpolitik für die nächsten Jahre zieht und dass Sie auch in diesem Punkt an die Politik Ihrer Vorgängerin Renate Schmidt anknüpfen.

Ich will etwas zu den Hauptbotschaften des Kinder- und Jugendberichtes sagen und dazu, wo nach Auffassung der SPD Schwerpunkte gesetzt werden müssen:

Erstens. Der Bericht macht ganz klar: Wir müssen die Spirale von Armut und mangelnden Bildungschancen durchbrechen. Besonders Kinder und Jugendliche, die in sozialen Brennpunkten leben oder einen Migrationshintergrund haben, haben weniger Bildungschancen; das heißt zugleich, auch immer weniger Zukunftschancen. Der Bericht sagt, nicht alle Kinder haben die gleichen Zugänge zu einer guten Entwicklung. Es gibt immer noch viel zu viele Kinder, die ohne ein gesundes Frühstück aus dem Haus gehen und zu Hause kein Buch vorgelesen bekommen, sondern eher Fastfood und Fernsehen in der Freizeit konsumieren. Das sind Alltagsrealitäten. Da müssen wir noch stärker auf dem aufbauen, womit wir begonnen haben, noch stärker vernetzte Angebote in den Stadtteilen machen, früher beginnen, Kinder zu fördern, sowie stärker die Eltern einbeziehen und unterstützen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch das steht in dem Bericht. Es geht also in der Kinder- und Jugendpolitik um die soziale Integration und um bessere Teilhabemöglichkeiten für Kinder. Das Motto „Auf den Anfang kommt es an“, das wir als SPD als Überschrift gewählt haben und das auch jetzt die Kinder-, Jugend- und Familienpolitik weiter durchzieht, verlangt ein Handeln nach der Devise: Je früher man Eltern unterstützt, Familien begleitet und Kinder fördert, desto positiver. Der Vorschlag des Berichtes, mehr vernetzte Angebote, so genannte Häuser für Familien, zu schaffen, verdient unseres Erachtens besondere Beachtung. Mit der Förderung von Mehrgenerationenhäusern Frau Ministerin hat es schon gesagt und von Familien- bzw. Eltern-Kind-Zentren greifen wir diese Idee auf. Das ist wichtig für die Entwicklung in den Stadtteilen.

Die zweite wichtige Botschaft lautet: Wir müssen die gesellschaftliche Verantwortung für Bildung, Betreuung und Erziehung stärken. Auch da bin ich stolz auf das, was die frühere SPD-Regierung schon begonnen hat. Ich erinnere an das 4-Milliarden-Euro-Programm für mehr Ganztagsschulen in NRW gibt es jetzt schon 1 000 offene Ganztagsgrundschulen; das ist ein Erfolgsprojekt

(Beifall bei der SPD)

und an das Tagesbetreuungsausbaugesetz, das den Ausbau der Betreuung für die unter Dreijährigen vorsieht. Ich will in dem Zusammenhang auch den Erzieherinnen und Erziehern danken. Ich weiß, dass sie immer viel kritisiert und beschimpft werden, obwohl sie eine wirklich schwere Arbeit für wenig Geld machen. Wir sollten eigentlich dafür sorgen, dass sie mehr Chancen auf Weiterbildung erhalten, und so neue Wege aufzeigen, statt immer nur zu sagen, die Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland seien alle schlecht.

(Ina Lenke (FDP): Sagt ja keiner!)

Sie sind es nicht. Sie leisten eine wichtige Arbeit. Zugleich müssen ihnen aber mehr Möglichkeiten für Weiterbildung eröffnet werden.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der zur Botschaft von der gesellschaftlichen Verantwortung für den Ausbau von Bildung und Betreuung gehört, ist der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Die große Koalition hat deutlich gesagt, dass dieser Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab dem zweiten Lebensjahr kommen wird, wenn der Ausbau in den Kommunen nicht zügig genug vorangeht. Dazu stehen wir und das werden wir durchziehen.

(Beifall bei der SPD)

Die dritte wichtige Botschaft lautet: Wir brauchen einen umfassenderen Begriff von Bildung. Diesen Punkt behandelt der Bericht sehr deutlich und ausführlich. Bildung findet viel früher statt und in viel mehr Kontexten, als man noch vor einigen Jahren dachte. Bildung findet nicht nur in der Familie statt, sondern auch in der Nachbarschaft, im Kindergarten, in der Freizeit und in den Medien. Bildung ist eben nicht nur mit Schule gleichzusetzen, sondern bedeutet, dass Kinder vielfältige Kompetenzen entwickeln. Da betont der Kinder- und Jugendbericht ganz ausdrücklich die frühkindliche Bildung und empfiehlt deshalb auch, mehr Möglichkeiten zu schaffen, damit Kinder schon ab dem zweiten Lebensjahr, also nach dem ersten Geburtstag, einen Kindergarten besuchen können. Unter dem schönen Motto „Kinder brauchen mehr als Windeln“ weist der Kinder- und Jugendbericht darauf hin, dass der Kontakt zu Gleichaltrigen als Ergänzung zur Erziehung in der Familie wichtig ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die vierte wichtige Botschaft des Berichtes: Wir brauchen eine nachhaltige Familienpolitik, um Kinder und Jugendliche zu stärken. Dazu gehört der Ausbau der Betreuung. Der Bericht weist aber auch noch einmal sehr deutlich darauf hin, dass wir etwas tun müssen, um im ersten Lebensjahr des Kindes die Eltern finanziell zu unterstützen. Deshalb ist der Weg der großen Koalition, das Elterngeld einzuführen, richtig.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ina Lenke (FDP): Welches?)

Ich wundere mich immer über den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, der einerseits das Elterngeld ablehnt und gleichzeitig im eigenen Land massive Kürzungen bei Kindertageseinrichtungen, bei der Familienbildung und bei der Jugendförderung vornimmt. Wenn das Jahr 2006 zum Jahr des Kindes ausgerufen wird, gleichzeitig aber 75 Millionen Euro bei den Kindergärten gekürzt und stattdessen Polizeipferde und Landwirtschaftskammern unterstützt werden, dann empfehle ich die Lektüre des Kinder- und Jugendberichtes. Das müsste eigentlich zu einem Umdenken führen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In dieser Woche will ich auch eine Anmerkung zu einem Thema machen, das heute früh schon auf der Tagesordnung stand, nämlich die Reform unserer Verfassung. Ich denke, wir sollten bei dieser Reform darauf achten, dass wir handlungsfähig bleiben und uns nicht den Weg verbauen, notwendige Schritte für die Verbesserung der Chancen von Kindern und Jugendlichen zu gehen. Viele von uns haben die Umsetzung des 4-Milliarden-Euro-Programms für mehr Ganztagsschulen begleitet. Das war ein außerordentlich wichtiger Schritt. Es war sehr schwierig, das im Föderalismus umzusetzen; aber es war nicht unmöglich. Wir sollten uns solche Möglichkeiten erhalten; denn Deutschland ist eines der letzten Länder Europas, die noch eine Halbtagsschule haben. Wenn wir hier den Anschluss an die europäische Entwicklung schaffen wollen, müssen wir in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Bildungspolitik und bei den Investitionen für Kinder und Jugendliche bundesweite Standards setzen können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Noch ein Satz zur aktuellen Diskussion über die Gebührenfreiheit von Kindertageseinrichtungen, die wir alle zu Recht, wie ich finde, immer wieder fordern: Ja, auch die SPD will langfristig die Gebührenfreiheit. Unser erster Schritt ist der Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten. Das ist immer noch nötig, auch angesichts der regionalen Unterschiede. Wir wollen, dass alle Kinder in den Kindergarten gehen können und vor der Schule die deutsche Sprache richtig lernen können. Das ist ganz wichtig.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Richtig!)

Ich weise auf ein Beispiel hin, wie das positiv umgesetzt werden kann. Rheinland-Pfalz hat das Programm „Zukunftschance Kinder: Bildung von Anfang an“ umgesetzt. Dort ist seit dem 1. Januar dieses Jahres das letzte Kindergartenjahr gebührenfrei. Gleichzeitig werden die Kindergärten schon für Zweijährige geöffnet und damit auch in der Fläche erhalten. Da hat Kurt Beck, wie ich finde, eine gute Tat vollbracht und ein sinnvolles Programm vorgeschlagen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ina Lenke (FDP): Und die FDP!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Erich Kästner hat einmal gesagt: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Das Beispiel in Rheinland-Pfalz zeigt: Man kann es tun, wenn man will. Man kann mehr investieren für Kinder und Jugendliche. Man kann die Prioritäten richtig setzen, wie uns das auch der Kinder- und Jugendbericht vorschlägt.

Ich finde, dass wir auf der Bundesebene in der großen Koalition auf einem guten Weg sind, diese Priorität in der Kinder- und Jugendpolitik gut zu setzen.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Richtig!)

Unser roter Faden ist, dass Kinder eine gute Zukunftschance haben. Das ist unsere Politik für mehr Chancen für Kinder. Denn nur eine kinderfreundliche Gesellschaft hat eine gute Zukunft. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir daran gemeinsam weiterarbeiten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

9.3.06

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