Berlin | Netzwerk Berlin

„Heute für Reformen kämpfen

Ein Dossier von elf Abgeordneten des Netzwerks Berlin

„Was die gewonnene Bundestagswahl für die nächste sozialdemokratische Generation bedeutet“ beschreibt ein umfangreiches Papier, das elf Abgeordnete des Netzwerks Berlin, darunter Kerstin Griese, vorgelegt haben. Erschienen ist das Dossier als Sonderdruck der Berliner Republik, die unter der Schriftleitung von Tobias Dürr erscheint.

Die Frankfurter Rundschau hat das Papier unter der Überschrift „Der Schreck steckt uns noch allen in den Knochen“ dokumentiert. „Ende gut, alles gut? Nicht ganz“, analysiert das Dossier die gewonnene Bundestagswahl. Denn bei aller Freude habe man die viele Monate lang aussichtslos erscheinende Lage nicht vergessen. „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass im sozialdemokratischen Wahlsieg des Jahres 2002 weniger eine verbreiterte Begeisterung über die in den vergangenen vier Jahren geleistete Arbeit der rot-grünen Koalition zum Ausdruck kommt als tiefe Skepsis gegenüber den Rezepten und kulturellen Prägungen unserer Gegner.“ Doch auf die Schwäche der Konkurrenten wolle man sich nicht dauerhaft verlassen. „Als Vertreter der zukünftigen Generation sozialdemokratischer Politik werden wir hart dafür arbeiten, unseren Wahlsieg zum Ausgangspunkt künftiger Erfolge im Jahr 2006 und darüber hinaus zu machen.“ Über die sozialdemokratischen Versäumnisse der vergangenen vier Jahre ziehe das Papier eine „ernüchternde Bilanz“, schreibt der in Berlin erscheinende Tagesspiegel.

Die AutorInnen sind überzeugt, dass die Sozialdemokratie „die strukturelle Mehrheitspartei“ der nächsten Jahrzehnte sein könne, wenn sie sich gedanklich und programmatisch, organisatorisch und kulturell auf der Höhe ihrer Zeit befinde. Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und demografischen Umbruchprozesse, in denen sich das Land befinde, erzeugten Verunsicherung, Desorientierung und vielfach sogar Angst. „Die Politik reagiert darauf in unterschiedlicher Weise. Wo die einen unter dem Primat der Ökonomie fortwährende ,Beschleunigung‘ und soziale ,Grausamkeiten‘ in Aussicht stellen, basteln andere von rechts wie von links an einer Politik der Nostalgie, die eine mühelose Rückkehr in die idyllische Welt von Vollbeschäftigung, sozialstaatlicher Rundumversorgung und nationalstaatlicher Souveränität suggeriert. Beide Rezepte taugen nichts.“

Der Weg der Arbeitsmarktreform sei nicht entschieden genug gegangen worden. „Kaum irgendwo in Europa sind die gesetzlichen Bedingungen für den Markt der so genannten einfachen Dienstleistungen so ungünstig wie bei uns.“ Sollte das Bündnis für Arbeit nicht innerhalb eines Jahres in der Lage sein, eine „dynamische Politik des Wandels zu flankieren“, müssten andere Wege eingeschlagen werden.

Kritisch beleuchtet das Papier die im internationalen Vergleich ungünstigen Bedingungen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. „Auf die Lebensqualität der Familien, der kinderlos bleibenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die sozialen Chancen der Frauen wirkt sich dies negativ aus.“

In Ostdeutschland werde eine über den Solidarpakt II hinausreichende „kommunikationsfreudige Politik der neuen Ideen“ gebraucht, schreibt das Netzwerk Berlin. Die Abgeordneten seien unzufrieden mit der Ankündigung des Kanzlers, den bisherigen, für die ostdeutschen Länder zuständigen Staatsminister im Kanzleramt, Schwanitz auch in das neue Kabinett aufzunehmen, folgert die Frankfurter Allgemeine.

Ins Gericht gingen die elf Parlamentarierinnen auch mit der Spitze der eigenen Partei, so der Tagesspiegel. „Eine ,allzu technokratisch ausgerichtete‘ Bundesgeschäftsführung habe ,eine echte Parteireform blockiert‘.“ Parteitage dürften nicht „bloße Akklamationsorgane“ sein. „In Bezug auf die Parteireform stellen sich die Abgeordneten gegen Bundesgeschäftsführer Machnig, dessen Wahlkampfführung in der Kampa und Reformvorstellungen“, schreibt die FAZ und zitiert: „,Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, droht sich die Lebens- und Erlebniswelt der Spitzenfunktionäre einschließlich ihrer Entourage aus der Kampa von den Milieus der Parteibasis zu entkoppeln.‘ SPD-Mitglieder würden sich entgeistert die Augen reiben, wenn sie die ,jungen Herren in den dunklen Anzügen‘ sähen, die mit ,Club-Krawatte und Video-Beamer wie Ufos‘ bei ihnen einfielen, um die Partei auf Vordermann zu bringen.“ Indem die Parteiführung in ihren Großraumbüros dem smarten Klima von Dotcom-Startups nacheifere, wandelt sich das Verhältnis von Zentrum und Peripherie in einer Weise, die Karl Marx „Entfremdung“ genannt hätte, meinen die elf SPD-Abgeordneten.

Insgesamt liefert das Dossier eine Reihe von Stichworten für die künftige Politik, ohne jedoch vollständig zu sein. So sucht man die Begriffe „Umwelt“ und „Ökologie“ vergebens, und „Nachhaltigkeit“ wird nur im Zusammenhang mit der Finanzpolitik gefordert. Hier wird das Netzwerk Berlin noch nacharbeiten müssen.

„Die Zukunft des sozialdemokratischen Versprechens“ heißt das Abschlusskapitel. Dort macht das Netzwerk Berlin die Grundwerteorientierung seiner Politik deutlich. Der historische Aufstieg der SPD gründe im Glauben an die Gestaltbarkeit der Zukunft und noch immer stehe die Partei für die großen Versprechen von Freiheit und Fortschritt, Gerechtigkeit und Chancengleichheit, Solidarität und Zusammenhalt. „Darin liegt der Kern sozialdemokratischer Identität, jene spezifische Aura, die unsere Partei so deutlich unterscheidbar macht von allen anderen Parteien. Eine Sozialdemokratie ohne eigene Ziele und die Zuversicht, diese Ziele verwirklichen zu können, hätte ihren Weg verloren, würde ununterscheidbar und letztlich überflüssig.“ Doch bestehe überhaupt kein Grund, an der Aktualität und Attraktivität der normativen Orientierungen zu zweifeln. „Das Streben nach größerer Gleichheit der Chancen, angereichert um die Zuversicht, dieses größere Maß an sozialer Egalität mit den Mitteln freiheitlicher, demokratischer Politik tatsächlich verwirklichen zu können – so lässt sich die zentrale Idee der sozialen Demokratie auch heute noch zusammenfassen.“

Kurzfassung des Dossiers (Frankfurter Rundschau)
Das komplette Dossier als Download bei der Berliner Republik (pdf-Datei)

Netzwerk Berlin

26.8.02

Home