Berlin | Reden

Nationales Reformprogramm 2012 muss soziale Ziele der Strategie „Europa 2020“ berücksichtigen

Die Rede wurde am 29. März 2012 zu Protokoll gegeben

Sehr geehrtes Präsidium!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

die Bundesregierung ist offenbar überfordert. Sie war unfähig, den Verbänden den Entwurf des Nationalen Reformprograms 2012 so frühzeitig zur Kenntnis zu geben, dass diese sich ausführlich mit dem Programm hätten beschäftigen können. Stattdessen hatten die Verbände der freien Wohlfahrtspflege und der Kommunen lediglich wenige Tage Zeit, um sich zu dem 90-seitigen Nationalen Reformprogramm 2012 zu äußern. Diese kurzfristige Beteiligung wurde von den kommunalen Spitzenverbänden wortwörtlich als „äußerst ärgerlich“ bezeichnet.

Fest steht, dass die Zivilgesellschaft in Form der Verbände nicht angemessen an der Formulierung des Nationalen Reformprogramms beteiligt wurde. Dabei fordert die Strategie „Europa 2020“ ausdrücklich und mehrfach, dass die Zivilgesellschaft von den nationalen Regierungen in die Umsetzung der Strategie einbezogen werden sollen.

Die Nichtbeteiligung der Zivilgesellschaft in Deutschland ist angesichts der Bedeutung der Strategie „Europa 2020“für die Zukunft Deutschlands und Europas ein eklatantes Versäumnis. Das Nationale Reformprogramm ist deshalb so wichtig, weil es den Zielen der Strategie „Europa 2020“ dient. Mit der Strategie „Europa 2020“ hat sich die Bundesregierung im Jahr 2010 verpflichtet, jedes Jahr bis April in ihrem Nationalen Reformprogramm darzulegen, mit welchen Maßnahmen sie in diesem Jahr zum Erreichen der Ziele der Strategie „Europa 2020“ beizutragen beabsichtigt. 

Die Einbeziehung der Zivilgesellschaft ist aus dem Grunde so wichtig, weil dadurch eine Rückkopplung zwischen der Ebene der Europäischen Union und den Menschen geschaffen würde. Die zahlreichen Akteure der Zivilgesellschaft müssen so gut wie möglich einbezogen werden, anderenfalls wird es noch schwerer werden, die Ziele von „Europa 2020“ zu erreichen.  

Das strategische Ziel von „Europa 2020“ ist es, „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ in der Europäischen Union zu generieren. Um dieses übergeordnete Ziel zu erreichen hat sich die Europäische Union auf fünf Kernziele geeinigt, die sie bis 2020 verwirklichen möchte. Europa soll grüner werden, indem die Treibhausemissionen gesenkt, die Erneuerbaren Energien gestärkt und die Energieeffizienz in der Europäischen Union gesteigert wird. Außerdem haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, im Jahr 2020 mindestens drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Innovation, Forschung und Entwicklung aufzuwenden.

Die soziale Dimension der Europäischen Union soll gestärkt werden, indem die Beschäftigungsquote in den Mitgliedstaaten gestärkt wird, so dass im Jahr 2020 mindestens 75 Prozent der Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren einen Arbeitsplatz haben. Gleichzeitig sollen die Schulabbrecherquote auf unter 10 Prozent gesenkt und der Anteil der 30 bis 34-Jährigen mit abgeschlossener Hochschulbildung auf mindestens 40 Prozent eines Jahrgangs angehoben werden, um das Bildungsniveau zu verbessern. Schließlich hat sich die Bundesregierung ebenso wie alle anderen Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union dazu verpflichtet, die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen bis zum Jahr 2020 um mindestens 20 Millionen zu senken.

Die Bundesregierung hat das Nationale Reformprogramm 2012 – wie bereits im vergangenen Jahr – allein dazu genutzt, ihre Politik zu rühmen. Deutschland habe die Ziele der Strategie „Europa 2020“ nahezu erreicht. Deshalb bedürfe es keiner weiteren Anstrengungen, das ist der Grundtenor der Bundesregierung. Entsprechend dürftig ist der Inhalt des Nationalen Reformprogramms.

Die Frage stellt sich also, ob Deutschland tatsächlich schon heute – acht Jahre früher – die Ziele der Strategie „Europa 2020“ erreicht hat. Aufgrund des Umfangs des Programms möchte ich stellvertretend das Ziel der Armutsreduktion nehmen, um zu zeigen, dass die Bundesregierung weit davon entfernt ist, die Ziele der Strategie bereits erreicht zu haben. Zur Erinnerung: Die Anzahl der durch Armut und soziale Ausgrenzung gefährdeten Menschen in der Europäischen Union soll bis zum Jahr 2020 um mindestens 20 Millionen verringert werden. Die Bundesregierung hat sich dazu entschlossen, einen Beitrag zu diesem Ziel zu leisten, indem sie die Anzahl der Langzeitarbeitslosen in Deutschland bis zum Jahr 2020 um 320 000 Menschen verringert. Heute – im Jahr 2012 – gibt es in Deutschland über eine Millionen Menschen die mindestens zwölf Monate ohne Unterbrechung arbeitslos waren und damit als langzeitarbeitslos gelten. Eine Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit um 320 000 Personen bis zum Jahr 2020 hieße also erstens, dass im Jahr 2020 immer noch rund 700 000 Menschen länger als ein Jahr arbeitslos wären. Die Bundesregierung gibt sich also damit zufrieden, die Langzeitarbeitslosigkeit um lediglich ein Drittel zu verringern. Sie findet sich damit ab, dass 700 000 Menschen auch im Jahr 2020 noch von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen wären. Schon daran zeigt sich, dass die Bundesregierung weit davon entfernt ist, die Ziele der Armutsbekämpfung zu erreichen.

Wir müssen in Deutschland mehr tun, um Armut zu vermeiden und Menschen aus Arbeitslosigkeit und Armut zu befreien. Das zeigt sich nicht nur an der Anzahl der Langzeitarbeitslosen, sondern auch an den Statistiken der europäischen Statistikbehörde Eurostat. Eurostat hat ermittelt, dass in Deutschland fast 16 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind. Das Statistische Bundesamt sprach jüngst von 13 Millionen Menschen in Deutschland, die weniger als 60 Prozent des Durchschnitts zum Lebensunterhalt zur Verfügung haben. Laut Eurostat lebten im Jahr 2010 in unserem Land rund 3,7 Millionen Menschen, die unter erheblicher materieller Deprivation litten, also ihre Grundbedürfnisse nicht aus eigener Kraft befriedigen konnten. Die Bundesregierung hat in dieser Woche eingeräumt, dass Millionen Frauen Armut im Alter drohe, da sie heute nur geringfügig beschäftigt seien. 4,65 Millionen Frauen arbeiten derzeit in Minijobs, so dass sie nur geringe Rentenanwartschaften erwerben. Angesichts dieser Zahlen sind die im Nationalen Reformprogramm 2012 genannten Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung der Armut in Deutschland völlig unzureichend. Es ist dringend erforderlich, dass die Bundesregierung neben dem Indikator der Langzeitarbeitslosigkeit auch die anderen Armuts-Indikatoren der Europäischen Union berücksichtigt. Nur dann würde die Bundesregierung dem Ausmaß der Armut und sozialen Ausgrenzung in Deutschland gerecht. Nur dann wäre der Beitrag Deutschlands zur Verringerung der Armut in der Europäischen Union angemessen.

Leider ignoriert die Bundesregierung den Handlungsbedarf im Bereich der Armutsbekämpfung seit langem. Schon das Nationale Reformprogramm des vergangenen Jahres beschränkte sich auf den Indikator Langzeitarbeitslosigkeit. Die Bundesregierung hat unsere damalige Aufforderung, mehr gegen Armut zu tun, ignoriert. Deshalb ist anzunehmen, dass auch die künftigen Nationalen Reformprogramme der sozialen Dimension der Strategie „Europa 2020“ vernachlässigen werden. Wenn schon der stärkste Mitgliedstaat der Europäischen Union der Verringerung der Armut einen solch geringen Stellenwert beimisst, ist zu fragen, warum andere Mitgliedstaaten, in denen die Armut und soziale Ausgrenzung ein weit höheres Ausmaß haben, mehr tun sollten. Die Bundesregierung geht mit schlechtem Beispiel voran.

Der „Spiegel“ bezeichnete die Bundesregierung in dieser Woche als „Tunix-Regierung“. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Im Kampf gegen Armut sind Bundeskanzlerin Merkel und ihr Kabinett ebenso untätig wie in den anderen Bereichen der Strategie „Europa 2020“. Bei der Beschäftigungsquote mag das quantitative Ziel, dass mindestens 75 Prozent der Männer und Frauen zwischen 20 und 64 Jahren einen Arbeitsplatz haben, statistisch fast erreicht sein. Es reicht aber nicht aus, auf das quantitative Ziel zu schauen. Zu fragen ist auch, wie die Beschäftigungsverhältnisse qualitativ aussehen. Diese Frage stellt sich die Bundesregierung jedoch nicht. Ihr geht es allein darum, statistisch gut auszusehen. Ob die Menschen von ihrer Arbeit leben können, interessiert offenbar weder Frau Merkel noch Frau von der Leyen. Anderenfalls hätten sie längst einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt und die Leiharbeit anständig reguliert.

Meine Kritik am Nationalen Reformprogramm 2012 der Bundesregierung ließe sich fortsetzen. Trotz meiner Enttäuschung über die Reformprogramme der vergangenen beiden Jahre möchte ich meine Hoffnung äußern, dass die Bundesregierung die zu erwartenden Kritik der Europäischen Kommission aufnehmen und ihr Nationales Reformprogramm verbessern wird.

Vielen Dank.

29.3.12

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