Berlin | Reden

„Wir dürfen kein Kind zurücklassen“

Kerstin Grieses Rede am 22. März 2007 in der Debatte über den Koalitionsantrag „Gesundes Aufwachsen ermöglichen – Kinder besser schützen – Risikofamilien helfen

Kerstin Griese (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen und wir müssen mehr dafür tun, dass Kinder gesund aufwachsen. Wir wollen und wir müssen mehr dafür tun, dass Kinder besonders aus Risikofamilien besser geschützt werden. Deshalb müssen wir schnell handeln, was auch durch die aktuellen Fälle unterstrichen wird.

Wir müssen mehr tun, um deutlich zu machen, dass der Staat eine Verantwortung hat. Artikel 6 des Grundgesetzes besagt:

Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.

Aber es sagt auch deutlich:

Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

Dieses Wächteramt müssen wir mehr und besser ausfüllen, damit alle Kinder die Chance haben, gesund aufzuwachsen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dazu gehört, die Erziehungskompetenz der Eltern zu stärken. Dazu gehört aber auch, mehr zu tun, um die medizinische Versorgung zu verbessern. Es muss überprüft werden, ob die Intervalle der Vorsorgeuntersuchungen richtig gewählt sind, ob die Qualität stimmt und ob nicht noch anderes untersucht werden muss, um Misshandlungen und Vernachlässigungen früher zu erkennen.

Ich bin überzeugt, dass Sanktionen nicht helfen werden. Ich glaube aber sehr wohl, dass Bonusmodelle helfen werden. Wir sehen das am Beispiel von Finnland, wo es das Neuvola-System gibt. Eltern bekommen einen Bonus dafür, dass sie mit ihren Kindern regelmäßig an Untersuchungen teilnehmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Was wir erreichen wollen und ganz dringend erreichen müssen, ist ein verbindliches Einladewesen zur Vorsorgeuntersuchung und die Teilnahme aller Kinder daran. Es sollen nicht irgendwelche Statistiken erhöht werden. Vielmehr soll die Teilnahme tatsächlich aller Kinder erreicht werden. Denn die fünf, in manchen Stadtteilen auch 25 und in manchen Stadtteilen sogar 50 Prozent der Kinder, die nicht mehr zu Vorsorgeuntersuchungen gehen, sind die Problemfälle. Hier muss das staatliche Wächteramt ausgefüllt werden. Wir müssen uns darum kümmern, warum diese Kinder nicht zur Vorsorgeuntersuchung kommen. Für sie müssen wir etwas tun.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich will ausdrücklich sagen: Es gibt sehr viele sehr gute Ansätze. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung macht ganz tolle Arbeit. Die Aktion "Ich geh' zur U! Und Du?", die in vielen Kindergärten durchgeführt wird, ist wirklich klasse.

Ich sage aber auch ganz deutlich, Frau Golze: Der Datenschutz kann und darf kein Argument sein, um den Schutz von Kindern zu verhindern.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Diana Golze [DIE LINKE]: Das ist er auch nicht!)

Der Datenschutz darf nicht dafür herhalten, dass Daten nicht weitergegeben werden. Jugendämter, Gesundheitsämter, Sozialämter, Krankenhäuser und der Kinderschutzbund – sie alle müssen zusammenarbeiten können, damit solche schlimmen Fälle wie in der Vergangenheit nicht wieder passieren. Wir müssen uns dort kümmern, wo sich nicht genügend um Kinder gekümmert wird.

Das hat auch etwas mit sozialer Integration, mit Bildungschancen und Gesundheitschancen für alle Kinder zu tun. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt auf Bundesebene mit dem Programm "Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme" damit beginnen, zu schauen, was in den Ländern und Kommunen eigentlich passiert. Es werden Modellprojekte gestartet, um die Versorgung von Kindern zu verbessern und zu fördern.

Ich will deutlich sagen: Es gibt ein paar sehr gute Ansätze. Ich komme aus dem Landkreis Mettman, wo für die U 8, die etwa im Alter von dreieinhalb Jahren stattfindet, ein solches Einladewesen praktiziert wird. Das Gesundheitsamt schreibt alle Eltern an. Dort, wo keine Rückmeldung erfolgt, wird nachgehakt. Wir haben dort eine tatsächlich höhere Beteiligung an diesen Vorsorgeuntersuchungen als woanders.

In Düsseldorf wird mit dem Düsseldorfer Modell direkt nach der Geburt in den Geburtskliniken begonnen, um die Eltern abzuholen und denjenigen, die Hilfe brauchen, zu helfen. In Dormagen – ich will dies ausdrücklich erwähnen, weil es ein ganz toller Ansatz ist – begrüßen der Bürgermeister sowie seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Sozialämtern jedes Kind. Das ist keine Stigmatisierung. Jede Familie wird im Rahmen des Programms „Willkommen im Leben, willkommen als Familie in Dormagen“aufgesucht und erhält Hilfsmaßnahmen. Das brauchen wir; so füllen wir das staatliche Wächteramt aus.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Mein Fazit ist:

Erstens. Wir dürfen kein Kind zurücklassen. Wir müssen uns um jedes Kind kümmern.

Zweitens. Es ist unsere staatliche Verantwortung, uns um alle Kinder zu kümmern, auch um diejenigen, deren Eltern ihnen nicht helfen.

Drittens. Wir brauchen Chancen auf Bildung und gesundes Aufwachsen für alle Kinder.

Ich ende mit einem schönen Zitat von Rudolf Virchow. Er hat gesagt: Die Freiheit hat zwei Töchter: die Bildung und die Gesundheit. – Damit unsere Kinder all das, nämlich Bildung und Gesundheit, bekommen, müssen wir uns einsetzen und mehr als bisher tun. Das wollen wir auch. Die Koalition hat dazu Vorschläge vorgelegt. Ich hoffe, dass wir sie gemeinsam unterstützen und durchsetzen können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

23.3.07

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