THÜRINGER ALLGEMEINE September 2000

Alltag nach Auschwitz

Deutsche Politiker reisen nach Polen, um sich und andere zu fragen, wie man das Unfassbare fassbar erinnern kann und soll

Von Hanno Müller

Viermal in der Woche liegen in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte (IJBS) in Auschwitz, polnisch Oswiecim, die Nerven blank. Seit gut drei Wochen hämmern mittwochs, freitags, samstags und sonntags kaum einen Steinwurf von der deutsch-polnischen Bildungsstätte entfernt Technorhythmen durch die Nacht. Vergeblich hatte Leszek Szuster, Direktor der vor 15 Jahren unter anderem von der Aktion Sühnezeichen initiierten Studieneinrichtung, Widerspruch gegen die Disko vor seiner Haustür angemeldet. Nachdem die Betreiber einen unmittelbar an das IJBS-Grundstück angrenzenden Streifen an Dritte verpachtet hatten, musste der Nachbar nicht einmal mehr informiert werden. Von der Eröffnung des umstrittenen Tanztempels im August erfuhr Szuster erst durch übergroße Plakatwände.

Gut 1500 Gruppen haben die Jugendbegegnungsstätte bisher besucht. In unmittelbarer Nähe der Menschenvernichtungsfabrik der Nazis diskutieren Deutsche und Polen, aber auch Israelis, Amerikaner und Briten mit Zeitzeugen. Durch gegenseitiges Kennenlernen und Beschäftigung mit der Geschichte, so Szuster, können Ängste und Vorurteile abgebaut werden. Das allerdings sieht der IJBS-Chef jetzt in Gefahr. Die Disko sei nicht nur laut, für die ausländischen Gäste stelle sie auch ein Sicherheitsproblem dar.

Was in jedem anderen polnischen Städtchen als Nachbarschaftsstreit zu behandeln wäre, bekommt in der 40.000-Seelen-Gemeinde eine besondere Dimension. Darf man hier, wo die Nazis Hunderttausende in den Tod schickten, tanzen und fröhlich sein? Noch dazu in einem Gebäude, das möglicherweise von den Nazis als Gerberei für das den Toten abgeschnittene Haar genutzt wurde? Kann in eine Stadt, in der gut 80 Prozent aller Immobilien und Liegenschaften irgendwie wie mit der Todesmaschinerie in Beziehung standen, überhaupt so etwas wie Alltag einziehen? Oder ist gar der Technotempel alarmierendes Indiz dafür, dass die Shoa früher oder später zu einer Geschichtsperiode wird wie andere auch?

Fragen, die sich auch in dieser Woche nach Auschwitz gereiste junge Bundestagsabgeordnete von SPD und B90/Die Grünen stellen. Nicht zuletzt mit dem Anspruch, Erinnerung für die Zukunft zu bewahren, trifft man sich, um als nicht unmittelbar mit Schuld beladene dritte Generation ein Zeichen zu setzen. Akteure wie Dietmar Nietan (SPD), Christian Simmert oder Cem Özdemir (beide Grüne) waren maßgeblich an der Bundestagsdebatte zum Holocaust-Mahnmal beteiligt, schon im vergangenen Jahr reiste man zudem in kleiner Abordnung zu Gesprächen nach Israel. Die waren überglücklich, als sie sahen, dass es in den deutschen Regierungsparteien offensichtlich auch nach Rau und Dressler Leute geben wird, die sich um die gemeinsame Geschichte kümmern, so Dietmar Nietan.
Gemessen an den Sorgen, die die derzeit in Deutschland mobil machende rechte Gewalt bereitet, erscheinen die Technokids in Auschwitz als beinahe kleines Problem. Nachdenklich streift etwa Katrin-Göring Eckardt, Grünen-Abgeordnete aus Erfurt, durch den Kinderblock im ehemaligen Frauenlager von Birkenau. Müsste man über all diese Verbrechen und das unendliche Leid, das sie über die Menschen gebracht haben, nicht viel früher in der Schule sprechen, fragt sie? Und fügt hinzu: Wie aber kommt man an die Lehrer rann, die sich nicht damit beschäftigen möchten? Abgeordnetenkollege Carsten Schneider (SPD) findet, dass es viel mehr Möglichkeiten geben sollte, jungen Leuten Reisen nach Auschwitz zu ermöglichen. Das Interesse sei da, aber häufig fehle es am Geld.

Fertige Antworten haben die Jungen noch keine, auch nicht auf die Frage, was wohl sein wird, wenn es einmal keine Überlebenden mehr geben wird, die noch immer mit ihrem authentischen Schicksal beeindrucken. Wohl bewusst sind sie sich aber bei ihrem Gang durch das Todeslager dessen, was der britische Historiker Eric Hobsbawn eine Übergangsphase nennt: Mit zunehmendem Abstand von einem einschneidenden Ereignis beginne eine Zwielichtzone zwischen Erinnerung und Geschichte, also zwischen der Vergangenheit als erinnertem Bestandteil des eigenen Lebens und der Vergangenheit als grob skizzierten, nüchternen Bericht.

Wir haben eine Verantwortung dafür, dass die Erinnerung lebendig bleibt, so eine der mitgereisten Parlamentarierinnen. Nach Polen sei man schließlich auch gefahren, um Ideen und Projekte auszuspähen, wie so manche Million sinnvoll angelegt werden könne.

© Thüringer Allgemeine 2000