Bundestag | Netzwerk und Youngster

SPD: Marsch der Urenkel

Der Spiegel, 24.2.2001

Still und unauffällig probt das „Netzwerk“‚ eine Gruppe junger SPD-Abgeordneter, den Aufstieg in der Berliner Republik. Ihr Vorbild: der ehemalige Juso-Chef Gerhard Schröder.

Es war einmal ein Jungsozialist. Der wollte hoch hinaus. Aber leider waren alle Führungspositionen bei den Jusos besetzt. Wer etwas werden wollte, musste zu einer der beiden Fraktionen gehören, die sich damals erbittert bekämpften: den „Reformern“ oder den „Stamokaps“. Dazu hatte er keine Lust.
Also setzte er sich an die Spitze einer dritten Gruppierung, die damals noch ohne jeden Einfluss war. Unter seiner Führung mischten die „Anti-Revisionisten“, wie sie sich nannten, den Laden auf. Sie behaupteten, es gehe ihnen nicht um Posten, sondern um Inhalte. Deshalb stimmten sie mal mit dieser, mal mit jener Fraktion. Und bald war ihr Anführer, Gerhard Schröder, Juso-Chef.

Heute ist er Bundeskanzler und den Juso-Niederungen längst entrückt. Aber die Methoden sind geblieben. Und eine kleine Gruppe junger Parlamentarier in der SPD-Bundestagsfraktion ist gerade ziemlich erfolgreich dabei, sie zu kopieren. Weil alle Pfründen verteilt waren, als sie frisch in den Bundestag kamen, und sie sich weder von den Rechten noch von den Linken vereinnahmen lassen wollten, gründeten sie einfach ihren eigenen Verein – das „Netzwerk“. Willy Brandts Urenkel haben den Marsch durch die Institutionen der Berliner Republik begonnen. Und manche sind in 2 Regierungsjahren weiter vorangekommen als die Enkel-Generation in 16 Bonner Oppositionsjahren.

Sie sind nicht links oder rechts, sondern in erster Linie jung. In 10 oder 15 Jahren werden einige von ihnen zur Führung der Partei gehören, das ist klar. Aber darüber reden sie selten. Stattdessen versichern sie, wie einst der Juso Schröder, es gehe ihnen nicht um Posten, sondern um Inhalte. Dabei wissen sie natürlich, dass man Themen besetzen und öffentlich vertreten muss, um aufzufallen und nach oben zu kommen.

Noch ist ihr Netzwerk viel zu locker geknüpft, um als „dritte Kraft“ Mehrheiten verändern zu können. Aber das Projekt hat sich herumgesprochen. Und da die Kommunikation heute über E-Mail und Internet läuft, wird der Kreis derer, die mitmachen wollen, täglich größer.
Fast 6oo Namen stehen schon im Verteiler, 250 allein aus Berlin – darunter Wissenschaftler, Journalisten und Künstler, die nicht unbedingt das SPD-Parteibuch haben müssen. Das Netzwerk ist kein geschlossener Zirkel, sondern offen für jedermann zwischen 20 und Mitte 40.

In nahezu jedem Bundestagsausschuss arbeitet einer von ihnen mit. Zwei – Sebastian Edathy, 31, und Rolf Stöckel, 43 – sitzen im Fraktionsvorstand. In der Berliner Parteizentrale und in den Landtagsfraktionen robben sie sich nach vorn. Bundesgeschäftsführer Matthias Machnig unterstützt sie. Ute Vogt, 36, eine ausgewiesene Netzwerkerin, kandidiert für das Amt des Ministerpräsidenten in Stuttgart. Im Kanzleramt, in vielen Ministerbüros und Pressestellen sitzen Sympathisanten und Informanten. Mit Kurt Bodewig ist der erste Netzwerker ins Kabinett gekommen.

„Wir sind“, bilanziert einer der Gründer, der Kieler Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels stolz, „binnen kürzester Frist zu einem Vehikel der Parteierneuerung geworden, der Erneuerung des Programms, des Personals und vielleicht sogar der Parteistrukturen selbst.“
Noch freilich dominieren die alten Bataillone die Fraktion: Auf der einen Seite die „Parlamentarische Linke“, die die Fahne der 68er hochhält. Auf der anderen Seite die verdienten Sozis vom „Seeheimer Kreis“, die sich in erster Linie als Prätorianergarde des Kanzlers verstehen.

Beide betrachten den Nachwuchs mit unruhigem Argwohn. Den Fraktionslinken waren die Neuen von Anfang an suspekt. Sie beschimpften sie als windschnittige Karrieristen, die nicht mehr den sozialistischen Fortschritt, sondern nur das eigene Fortkommen im Auge hätten. Aber auch die Rechten betrachteten die Frischlinge mit Misstrauen. Sie konnten nicht einschätzen, auf welcher Seite die standen.

Die Nervosität der Alten ist verständlich. Es geht um ihre Besitzstände. Mit dem Auftreten der Netzwerker ist – wie einst zu Schröders Juso-Zeiten – ihre alte bipolare Ordnung ins Wanken geraten. „Wo bisher die kühle Logik des ‚tertium non datur‘ herrschte – Parlamentarische Linke oder ‚rechte‘ Seeheimer –‚ gibt es mit der kleinen Gruppe der Netzwerk-Abgeordneten nun ein organisiertes Drittes.“ So steht es in der „Berliner Republik“, einer ziemlich professionell gemachten Zeitschrift, die von 13 eingeschriebenen Netzwerk-Abgeordneten herausgegeben und demnächst alle zwei Monate erscheinen wird.

Selbstbewusst treten die Netzwerker auf – die sozialdemokratische Abteilung der „Generation Berlin“: keinem Flügel zuzuordnen, offen für neue Organisations- und Kommunikationsformen und für Thesen, die den Traditionalisten zur Rechten wie zur Linken gleichermaßen zuwider sind.

Marktwirtschaft? Na klar! „Wir haben“, tönt die „Berliner Republik“, „wie unsere Vorgängergeneration, keine bessere Totalalternative in der Tasche – und wissen es sogar schon.“
Mitbestimmung? Ja – aber bitte mittelstandsfreundlich.
Rentenreform? Aber hallo! Nur so, wie sie jetzt zurechtgestutzt wurde, gefällt sie den Netzwerkern nicht. „Wir waren für die dritte Säule der Altersversorgung, und zwar für die obligatorische Variante“ der privaten Vorsorge, berichtet ihr Organisator Hubertus Heil.
Parlamentsreform? Die Jungen haben sehr konkrete Vorstellungen vom „gläsernen Abgeordneten“. Ginge es nach den Plä-nen des Netzwerkers Christian Lange aus Baden-Württemberg, dann müsste jeder Parlamentarier künftig nicht nur seine Einkünfte offen legen, sondern im Handbuch des Deutschen Bundestags „aufdecken, ob und für wen er nebenbei ein Jöble macht“.

Vehement bestreiten die Jungen, dass es ihnen um Karriere und Posten geht. Das Netzwerk sei „keine Seilschaft“, wehrt Minister Bodewig ab. „Es geht um die Profilierung von Themen, nicht von Personen“, sekundiert Hans-Martin Bury, 34, Staatsminister im Kanzleramt und bekennender Sympathisant, „aber dass das Zweite dem Ersten folgen kann, ist natürlich richtig.“
Bury war in den neunziger Jahren selbst Sprecher einer damals winzigen Gruppe von Neulingen, die sich „Youngsters“ nannte, aber einflusslos blieb. Gerade mal acht SPD-Abgeordnete waren am Ende der vorigen Legislaturperiode unter 40 Jahre alt. Nach Schröders Wahlsieg 1998 waren es 36, beinahe ebenso viele, wie FDP- und PDS-Fraktion jeweils Mitglieder haben.

Die Neuen erlebten „Bonn, wie eine eroberte Stadt – alles besetzt, alles in festen Händen“, erinnert sich der Thüringer Carsten Schneider, mit 25 Jüngster im Bundestag. Die Linken, denen sie sich als Jusos am ehesten verbunden fühlten, waren ihnen zu dogmatisch, die Seeheimer zu alt. Also gründeten Bodewig, Bartels und Heil im Januar 1999 das Netzwerk – es sollte ein Forum für jeden sein, der sich in den alten Fraktionsstrukturen heimatlos fühlte.
Seitdem wird einmal pro Sitzungswoche, donnerstags, diskutiert – meistens im Reichstag, weil es da größere Sitzungsräume gibt. Wolfgang Thierse war schon da. Ein paar bekannte Fernsehjournalisten redeten über ihr Geschäft, Wissenschaftler und Minister kamen. Und eines Abends waren sie beim Kanzler zu Hause – es sollten nur zwei Stunden sein, dauerte aber bis tief in die Nacht.

Es hat sich herumgesprochen, dass sich beim Netzwerk etwas Neues tut. Anfangs kamen donnerstags 20 bis 30 Interessierte zusammen, inzwischen sind es pro Veranstaltung 50 bis 60 – Tendenz steigend.
Nicht nur Abgeordnete haben Rederecht, auch deren Mitarbeiter dürfen mitdiskutieren. Es gibt keine Mitgliedsbeiträge (nur die Abgeordneten zahlen monatlich 50 Mark, um die Unkosten zu decken), keinen Vorstand und erst recht keinen Vorsitzenden. „Das hat den Vorteil“, spottet einer von ihnen, „dass bisher alles friedlich läuft. Sobald es einen Vorstand gibt, gibt es in der Regel auch eine Opposition.“

Nicht immer geht es bei den wöchentlichen Treffen nur um bierernste Politik, manchmal auch um Bier und Politik. In der letzten Sitzungswoche vor Karneval zum Beispiel. Da gingen die Netzwerker zum Berliner „Politwirt“ (Eigenwerbung) Friedel Drautzburg, der vor 30 Jahren in Bonn die legendäre linke Schumannklause führte und nun in der Hauptstadt drei Kölsch-Lokale betreibt. Der Kneipier referierte über das Thema „Sozialismus und Alkoholismus zwischen Rhein und Spree“.
Hinterher griff einer zur Klampfe. Zum Kölsch gab es linke Kampflieder: „Brüder, seht die rote Fahne“, die „Moorsoldaten“, „Avanti Popolo“. Keiner sang so textfest mit wie der Verkehrsminister Bodewig.
An solchen Abenden jedenfalls sind die Netzwerker von den alten Jusos und von den Seeheimern nicht zu unterscheiden.

HARTMUT PALMER

Spiegel

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