Reformation und Politik – Klare Option für die Armen?

Eine Predigt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche Berlin.
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, der da ist, der da war und der da kommt.

Liebe Gemeinde,

vielen Dank für die Einladung, auf der Kanzel dieser geschichtsträchtigen Kirche mitten in Berlin sprechen zu dürfen. Für uns Politikerinnen und Politiker ist es viel schwieriger, eine Predigt zu halten, als eine Rede im Deutschen Bundestag. Es ist auch eine viel persönlichere Angelegenheit, geht es doch um das ganz eigene Werteverständnis und die Konsequenzen daraus. Aber es ist mir auch immer wieder eine Freude, mich abseits der Tagespolitik auf einen Bibeltext einzulassen, nachzufragen, was damit in dieser Zeit gemeint war und was er uns heute bedeutet.

Pfarrerin Cornelia Kulawik und Kerstin Griese.

Pfarrerin Cornelia Kulawik und Kerstin Griese.

Sie haben das Themenjahr „Reformation und Politik“ in Vorbereitung auf das 500-jährige Reformationsjubiläum 2017 zum Anlass genommen, um über die politische Wirkung der Reformation nachzudenken. Das will ich heute Abend gerne mit Ihnen gemeinsam tun und habe dafür den Wochenspruch zum Ausgangspunkt genommen, den wir eben schon in der Lesung gehört haben:
Unser Predigttext ist aus Lukas 9,62.
Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.

1. Es geht um die Zukunft
Diese Aufforderung, die zuerst befremdlich klingt – lasse alles zurück, Familie, Nachbarn, Freunde, sogar die Beerdigung des Vaters – dieser Satz ist eines der ältesten Jesus-Worte, die in der Bibel überliefert sind. Es geht um eine Situation, in der Menschen Jesus nachfolgen wollen – aber vorher noch so einiges Wichtiges erledigen und sich verabschieden wollen. In der Antwort, die Jesus gibt, geht es aber nicht um die Vergangenheit, um das Zurückliegende, nicht einmal um das Gegenwärtige, sondern es geht um die Zukunft. Es geht um den Blick in die Zukunft, um die Nachfolge. Wer zurück blickt, wer zurück schreckt, wer alles beim Alten lassen will, ja, wer stehen bleibt, der sei nicht geeignet für das Reich Gottes.
Was ist damit gemeint?
Statt dem Blick zurück, gilt es, sich mit aller Kraft für die Zukunft einzusetzen, vor der Zukunft nicht zurück zu weichen. Nicht stehen bleiben, sondern Neues anpacken, sich engagieren, in neuen Bahnen denken, die Erneuerung für das Reich Gottes erstreben, dessen Anfänge wir auf Erden doch alle schon erleben wollen.
Für mich wirkt motivierend. Schau nach vorne, gestalte mit, mische dich ein, höre ich daraus. Ja, es ist auch eine Motivation, in der Politik nach vorne zu schauen und Dinge anzupacken, oft auch dicke Bretter zu bohren. Und ich freue mich, dass Jesus so ein zukunftsgewandter Mensch war, der andere für sich und seine Sache begeistern kann.

2. Reformation ist Erneuerung
Die Schriften der Reformation sind solche umwälzenden, auf die Zukunft gerichteten Zeugnisse. Luther wagte es, weiter zu denken und das Alte hinter sich zu lassen. Bei der Reformation ging es darum, alte Zöpfe abzuschneiden: die Ablasszahlungen zu beenden, das Zölibat abzuschaffen, die Kirche und ihre Pfarrer mitten ins Leben zu bringen, die Verkündigung in den Mittelpunkt zu stellen und dem Evangelium, seine Leuchtkraft wieder zu erschließen. Dahinter gibt es kein Zurück, mehr noch: Es sind Impulse für eine neue Zeit der Kirche.
„Ecclesia semper reformanda“ – „Die Kirche ist immer zu erneuern“, das ist einer der Leitsätze der Reformation. Und er gilt bis heute, gerade wir Protestantinnen und Protestanten diskutieren ja immer gerne über Reformen.
Nicht nur die Kirche, auch der Gang der Dinge in der Welt muss immer wieder erneuert werden. Das ist der Auftrag von Christinnen und Christen, die ständige Erneuerung der Welt in der Nachfolge Jesu.

3. Alle Erneuerung muss ein Ziel haben
Doch das geht nur mit einem Wertefundament, mit einem klaren Kompass. Als Politikerin und als Christin sage ich oft, mein Glauben ist wie ein Kompass. Nicht wie ein Navigationsgerät, das einem genau ansagt, ob es jetzt rechts oder links herum geht. In der Bibel steht NICHT, wie man zur Atomenergie, zur Präimplantationsdiagnostik, zum Mindestlohn oder zur Krankenversicherung abstimmen soll. Zum Glück steht das da nicht! Und jeder, der in einem Parlament behauptet, er hätte sein konkretes Abstimmungsverhalten direkt aus der Bibel abgeleitet, ist mir suspekt.
Aber die Bibel ist politisch, sie ist wie ein Kompass, der uns eine Richtung weist, wenn wir den Kompass denn aktiv selbst in die Hand nehmen und selbst orten wollen, wenn wir uns darauf einlassen.
Übrigens erlebe ich im politischen Alltag oft, dass man sich auch über Parteigrenzen hinweg versteht, wenn man von der gemeinsamen Motivation getrieben ist. Man muss dann nicht immer gleich abstimmen. Aber dem anderen sein redliches Bemühen abzunehmen ist oft schon ein erster wichtiger Schritt.

4. Reformation und Politik
Mit der Reformation ist unsere Kirche auch viel näher an Gesellschaft und Staat heran gerückt, mit allen Chancen und auch den Bedenken, die damit verbunden sind. „Fürchtet Gott. ehrt den König!“ hieß es da. Die Zwei-Reiche-Lehre des Luthertums hat die Tür zum modernen Staat aufgestoßen, aber auch in ihrer Verhärtung Folgen gehabt, die uns heute schwierig erscheinen.
Die Reformation hat unausweichlich das Verhältnis von politischer Macht und Kirche neu bestimmt. Von Anfang an also hat die Reformation auch politisch gewirkt.
Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 ist aber Stolz nicht angebracht. Zu oft wurde der Protestantismus nicht davor bewahrt, politisch auf der falschen Seite zu stehen. Ich denke an den Antisemitismus des späten Luther, an „Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern im Ersten Weltkrieg, auch an das Versagen weiter Teile des Protestantismus im Dritten Reich.
500 Jahre Reformation – das ist vielmehr ein Ansporn für die Zukunft, für eine ecclesia semper reformanda, eine Kirche, die sich immer wieder auf den Weg macht und hinterfragt. Eine Kirche, die bereit ist, lautstark Partei zu ergreifen für die, die am Rande stehen. Eine Kirche, die ihre Stimme gegen Ungerechtigkeit erhebt – damit wir Protestanten unserem Namen alle Ehre machen.
Ohne die Reformation würde sich unsere evangelische Kirche nicht so verstehen, dass sie zu grundlegenden politischen Fragen Stellung nehmen kann und soll, dass sie quasi auch ein politisches Mandat hat. Ich bin froh, dass es einige sehr positive Beispiele für das Wirken von Kirche gibt, wo sie Mauern geöffnet hat und Menschen zusammen geführt hat. Gerade hier in Berlin kommt mir da zuerst die Ostdenkschrift der EKD von 1965 in den Sinn. Sie hat die Tore für die Zukunft Deutschlands in Europa geöffnet und ganz konkret dazu beigetragen, das 1970 die Aussöhnung mit den polnischen Nachbarn und die Annäherung aneinander politische Mehrheiten finden konnte.

5. Die Option für die Armen
Das ganze Leben Jesu war eine einzige Parteinahme: für die Ausgestoßenen, für die Kranken, für die Armen, für die Entrechteten, für die Schwachen in der Gesellschaft und für die, mit denen sonst niemand etwas zu tun haben mochte.
Die „Option für die Armen“ steht im Mittelpunkt seines Wirkens. Das ist eine klare Option, eine klare Parteilichkeit, die wenig Kompromisse zulässt und die bis heute hinein wirkt in die Arbeit zum Beispiel der Diakonie und von Brot für die Welt – manchmal auch in Stellungnahmen der EKD.
Ich will den Zusammenhang herstellen zu der aktuellsten Äußerung der Kirchen. Vor kurzem haben die EKD und die katholische Bischofskonferenz eine gemeinsame Sozialinitiative vorgestellt, nach jahrelangem mühsamen Ringen. Man wollte in Folge des sehr wirkungsmächtig gewordenen Wortes der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1997 eine aktuelle Positionierung schaffen. Unter dem Titel „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ haben sie ein Zeichen gesetzt. Aber doch nur einen halben Schritt nach vorne gemacht, meine ich, denn so zaghaft und ausgewogen ist das Papier. Ja, es ist irgendwie wie eine Große Koalition – ich gehöre einer an und sehe sie positiv – aber muss Kirche denn so ausgewogen sein? Kann, darf, ja muss Kirche nicht parteiisch im besten Sinne sein? Parteiisch im Sinne der „Option für die Armen“, im Sinne der Radikalität Jesu, der gesagt hat: wirf alles weg, folge mir nach, lass uns das Reich Gottes schaffen.
Angesichts von Globalisierung und Finanzkrisen, angesichts von weltweit ungerechter Verteilung von Armut und Reichtum sind es doch die Christinnen und Christen in unserem Land, die ganz frei und offen Missstände kritisieren und Zukunftsoptionen aufzeigen können. Und ganz konkret wird ja hier in ihrer Kirche, die jeden Tag geöffnet ist, die Spannung sichtbar, zwischen arm und reich, die Sorge um eine Wohnung, um gute Arbeit, um die Familie.
Noch ein Beispiel: Der private Besitz in Deutschland wächst immer schneller, über ein Drittel des Reichtums in Deutschland liegt in der Hand von nur einem Prozent, so eine aktuelle Studie. Und im weltweiten Vergleich sind wir allesamt in Deutschland und Europa auf der Sonnenseite.
Bei ihrer Kritik darf Kirche nicht zu zaghaft sein. Sie sollte den Mächtigen Stachel im Fleisch sein. Kirche hat die Freiheit dazu. Schon die Propheten waren keine bequemen Zeitgenossen, sie haben mit ihren Worten oftmals genervt. Sie waren unbequem statt ausgleichend.

6. Was heißt das für uns aktuell?
Was bedeutet das für die klare Option für die Armen? Müssen die Kirchen nicht deutlicher, als sie es gerade in ihrer Sozialinitiative getan haben, auf Missstände hinweisen? Der wachsende Einfluss von Wirtschaft und Finanzinstituten auf Politik und Gesellschaft verlangt nach Antworten. Wenn die Kirchen selbst Stimme derer sind, die sonst zu schwach sind, um gehört zu werden, dann müssen sie hier lauter werden.
Wichtige Zukunftsfragen wie die Pflege, die Inklusion behinderter Menschen, die Zuwanderung, dürfen nicht allein ökonomisch betrachtet werden. Denn das geht auf Kosten der Schwachen, Verfolgten und Armen. Aus der „Option für die Armen“ erwächst doch der Einsatz für anständige Löhne, für bessere Pflege, für gute Chancen für alle Kinder, für gute Bildung, für mehr Aufmerksamkeit für alte Menschen, für Flüchtlinge.
Ich bin immer wieder froh, dass die Kirchen in dieser Klarheit in der Flüchtlingsfrage Partei ergreifen. Wenn nicht so viele Menschen in vielen Gemeinden überall in Deutschland aktiv wären und sich um Flüchtlinge und Asylbewerber kümmern würden, wenn nicht die Spitzen der Kirchen immer wieder eine humanere Flüchtlingspolitik fordern würden, dann würde eine wichtige Stimme fehlen. In diesem Sinne wünsche ich mir eine politische Kirche, engagierte Christinnen und Christen und viel Kraft. Und ich sage einen herzlichen Dank allen, die hier für eine Verbesserung kämpfen, damit das Reich Gottes anbrechen kann.

7. Wir leben in der Realität, nicht in einem Traumhaus
Liebe Gemeinde,
Hunger, Gewalt und Ausgrenzung gehören zu unserer Wirklichkeit – und Gott sind die Opfer nicht egal. Er hat sich explizit auf ihre Seite gestellt, indem er selbst zum Opfer geworden ist. Darum ist es auch unsere Aufgabe als Christinnen und Christen, uns an die Seite der Opfer zu stellen und gegen Ungerechtigkeit jeder Art die Stimme zu erheben.
Deswegen übernehme ich politische Verantwortung und setze mich für Gerechtigkeit ein: damit jedes Kind eine gute Chance auf Bildung und Gesundheit bekommt, damit alle Menschen einer Arbeit nachgehen können, von der sie leben können, damit Europa eine soziale und nicht nur eine wirtschaftliche Union wird, damit wir in der Einen Welt mehr Solidarität zwischen Nord und Süd leben, damit kein Flüchtling mehr im Mittelmeer ertrinkt, damit das Miteinander der Generationen gelingt.
Gott gibt niemals auf. Er verweist uns immer wieder darauf, dass es um die Zukunft geht. Seine Zukunft ist offen. Er will nicht, dass wir sie verriegeln. Er bietet uns ständig Chancen und Möglichkeiten an. Aber er erteilt keine Befehle. Gott sei Dank! Ich bin ganz persönlich dankbar für die Freiheit eines Christenmenschen, für meinen Kompass und für die tägliche Losung, mit der ich morgens früh in den politischen Alltag starte. Gott gibt uns nicht auf, er lässt uns nicht allein, und er stärkt uns, uns immer wieder zu entscheiden, für die Zukunft.

In diesem Sinne singen wir gleich das schöne Lied: Vertraut den neuen Wegen.

Amen

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